03.11.2019

Fachkräftemangel in Care-Berufen neu denken

Dr. Angela Icken, frühere Leiterin des Referates ‚Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer‘ beim Bundesministerium, wüsste, wie sie eine Koordinationsstelle „Männer in Care-Berufen“ kompetent besetzen würde.

Foto: privat.

Darf ich mich vorstellen?

„Männer in Kitas“ ist das größte und mit weitreichenden gesellschaftlichen Veränderungen einhergehende Projekt meines Berufslebens. Mein Name ist Dr. Angela Icken und seit Mitte 2017 bin ich nun im (vorzeitigen) Ruhestand. Zuvor habe ich 31 Jahre der Abteilung Frauenpolitik/Gleichstellung im Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (die Bezeichnung des Bundesministeriums änderte sich öfter) angehört, seit 1992 als Referatsleitung. 2008 wurde mir schließlich die Leitung des Referates ‚Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer‘ übertragen. Allein die Einrichtung dieses Referates hat in frauenbewegten Kreisen viel Unverständnis, Kopfschütteln und auch Anfeindungen hervorgerufen. In Kreisen derer, die sich an traditionellen männlichen Geschlechterrollen orientieren, auch.

Es ist nicht die Regel, dass man in seinem Berufsleben die Chance bekommt, ein Politikfeld ganz neu zu entwickeln. Im Bereich der Gleichstellungspolitik für Jungen und Männer ist dies in Zusammenarbeit mit gleichstellungsorientierten Wissenschaftlern und Männerorganisationen gelungen. Das Programm ‚Männer in Kitas‘ war Neuland in gleichstellungspolitischer Hinsicht, im Hinblick auf die Ausbildung von Erziehern und Erzieherinnen und in der praktischen Arbeit in Kitas mussten Konzepte überarbeitet oder neu entwickelt werden. Es ist nicht vermessen zu sagen, dass das Projekt ‚Männer in Kitas‘ den Bereich der frühkindlichen Pädagogik und Kindertagesbetreuung nachhaltig verändert hat.

An welches Erlebnis mit der Koordinationsstelle „Chance Quereinstieg/Männer in Kitas“ denken Sie gerne zurück?

Vorweggeschickt: Ich habe die Arbeit der Koordinationsstelle sehr geschätzt. Wir waren oft nicht einer Meinung und mussten Themen ausdiskutieren, was oft daran lag, dass ich einen gleichstellungspolitischen Ausgangspunkt hatte, während die Koordinationsstelle häufig von einem eher fachlichen Standpunkt kam.

Ich will kurz drei Impressionen wiedergeben, die irgendwie typisch sind für das Projekt:

Sehr gut habe ich in Erinnerung, dass das Projekt ausgezeichnet wurde im Rahmen der Initiative, ‚Deutschland, Land der Ideen‘. Wir alle waren ziemlich stolz darauf. Die ‚Feierstunde‘ zur Verleihung der Auszeichnung habe ich als sehr wertschätzend empfunden und ich bin fest überzeugt, dass wir alle in Folge sehr beschwingt die Arbeit wieder aufgenommen haben.

Die Koordinationsstelle hatte im September 2012 im Rahmen des Projektes eine Internationale Konferenz zum Thema Männer in der Kindertagesbetreuung organisiert. Diese war sehr gut besucht und ich habe es als Ritterschlag für unsere Arbeit und die der Koordinationsstelle empfunden, als eine Teilnehmerin aus Australien konstatierte: „Bisher hat die Fachöffentlichkeit immer nach Norwegen gesehen, wenn es um Männer in der frühkindlichen Pädagogik ging. Heute sehen wir mit Recht nach Deutschland.“

Eine letzte Anekdote will ich noch anschließen: Bei einem Arbeitstreffen zu Beginn des Programms, an dem u.a. sowohl Vertreterinnen von Frauenorganisationen als auch Vertreterinnen und Vertreter der Gewerkschaften teilnahmen, stellte ich das Programm vor und ging besonders auf die Zielgruppe Männer ein. Ein Vertreter einer Gewerkschaft ereiferte sich: „Jetzt erklären Sie mir doch mal bitte, warum Sie Männer in diesen schlecht bezahlten Frauenberuf drängen wollen.“ Nach einer kurzen Sprachlosigkeit entgegnete ich: „Aber für ihre weiblichen Mitglieder ist diese schlechte Bezahlung in Ordnung?“ Von diesem Moment an war ich mir sicher, dass vor uns dicke Bretter lagen, die wir würden bohren müssen.

Wie hat sich das Themenfeld in den letzten Jahren entwickelt? Was war überraschend?

Mit der Koordinationsstelle Männer in Kitas hat mich bis zur Beendigung meiner Erwerbstätigkeit eine enge Zusammenarbeit verbunden. Gemeinsam haben wir das Thema (weiter) entwickelt und mein Job war es dann, Ergebnisse/Erkenntnisse in Berichte der Bundesregierung einzubringen. Hierdurch konnte ich einen guten Überblick darüber bekommen, wo das Thema der klischeefreien und an den eigenen Fähigkeiten und Neigungen (und nicht am Geschlecht) orientierten Berufswahl aufgegriffen wurde.
Durch die Gender-Brille betrachtet ist es evident, dass z.B. der Girls’Day (ein Kooperationsprojekt des BMFSFJ und des BMBF) auf Dauer nicht alleinstehen konnte. Welche Konsequenzen würde es für unsere Gesellschaft haben, wenn immer mehr Mädchen sich für MINT-Berufe entscheiden und tradierte Berufswege hinter sich lassen? Wer übernimmt die Care-Arbeit, die über Generationen von Frauen getragen wurde? Seit 2011 gibt es daher den bundesweiten Boys’Day (ein Projekt das allein vom BMFSFJ getragen wird). Dieser soll auch Jungen ermöglichen, Berufe jenseits tradierter Männerberufe kennenzulernen.

Von 2011–2013 gab es den Jungenbeirat des BMFSFJ, mit dem Ziel herauszufinden, wie Jungen und junge Männer leben und wie sie leben wollen. Deutlich wurde in diesen Projekten, dass Jungen und junge Männer heute nicht unbedingt die tradierte Männerrolle leben, nicht unbedingt klassische Männerberufe ergreifen wollen, sondern durchaus auch Care-Berufe. Explizit haben sie gesagt, dass ihnen hierfür aber eine konkrete Ansprache und Vorbilder fehlen.

Die Erfahrungen aus diesen drei Projekten sind eingeflossen in das Projekt www.klischee-frei.de (getragen vom BMFSFJ, BMBF und BMAS). Hierbei handelt es sich um ein breites Bündnis unterschiedlichster Akteurinnen und Akteure, die jungen Frauen und Männern eine Berufswahl jenseits gängiger Geschlechterklischees ermöglichen wollen und die sich aktiv hierfür engagieren.

Für den Bereich der Kindertagesbetreuung hat die Koordinationsstelle Strategien entwickelt, die in den vergangenen zehn Jahre sehr erfolgreich waren. Seit 2006 zeigt sich, dass die absolute Zahl der Männer in Kitas (ohne Verwaltungsmitarbeiter) von 11.006 auf 42.965 im Jahre 2019 fast vervierfacht bzw. um 290 Prozent gesteigert werden konnte. Hoffnung macht dabei, dass 43 Prozent der Männer in Kitas unter 30 Jahre sind. Im Hinblick darauf gratuliere ich der Koordinationsstelle für ihre erfolgreiche Arbeit!

Was braucht es künftig noch?

Aus meiner Sicht ist es zu kurz gesprungen, sich auf das Themenfeld ‚Männer in Kitas‘ zu beschränken. Wir stehen heute vor einem großen Fachkräfteproblem im gesamten Care-Bereich. Ich halte es gerade im Hinblick auf die Fachkräfteinitiative im Kranken- und Altenpflegebereich für bedenklich, „nur“ an den Symptomen zu kurieren. Natürlich bedarf es der Einführung einer Ausbildungsvergütung und Abschaffung des Schulgeldes. Es braucht geregelte Arbeitszeiten für Frauen und Männer in diesen Berufen oder einer Anpassung des Gehaltes an die gestiegenen Anforderungen der Care-Berufe. Ich bin der Überzeugung, dass in der Vergangenheit hier zu wenig unternommen wurde, mit tradierten Rollenbildern im Unterbewusstsein, dass es sich um Frauenberufe handelt und Frauen diese sowieso ergreifen.

Politik muss sich im Sinne des Gender Mainstreaming (GM) stärker mit der Ansprache beider Geschlechter auseinandersetzen.

Um den hohen Fachkräftebedarf in Zukunft decken zu können, bedarf es der Erschließung neuer Zielgruppen für Care-Berufe – und das sind explizit Männer. Gerade weil wir bei politischen Maßnahmen nicht beide Geschlechter in den Blick genommen haben, konnte es zu den aktuellen Problemen kommen. Wir sprechen immer von Fachkräftemangel ohne nach Geschlecht zu differenzieren!
 Die Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ hat ein Instrumentarium entwickelt, das die Ansprache von Männern erfolgreich macht – auch in anderen Care-Berufen.

Über 20 Jahre habe ich die Finanzmittel der Abteilung Gleichstellung bewirtschaftet. Daher ist mir bewusst, dass Projekte nicht dauerhaft gefördert werden können, ohne dass es im Abteilungshaushalt einen entsprechenden Mittelaufwuchs gibt – und den gab es nicht. Dies ist nun um so bedauerlicher, als die von der Koordinationsstelle Männer in Kitas erworbenen Kompetenzen in einer Koordinationsstelle Männer in Care-Berufen nutzbringend und schnell wirksam eingesetzt werden könnten.

Auch die weitere beratende – wenn auch vielleicht reduzierte – Fortführung der Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ muss fortgeführt werden, damit die angesammelte Kompetenz weiter abgerufen werden kann. Das oben schon angeführte Beispiel Norwegen, das für seine Geschlechtersensibilität bekannt ist, zeigt heute, dass es ein Bedingungsgefüge gibt zwischen dem Vorhandensein von Beratung im Hinblick Männer in Kitas und ihrer Anzahl unter den Beschäftigten: Mit dem Ende der Förderung einer solchen Stelle in Norwegen stagniert die Zahl von Männern in Kitas und ist sogar rückläufig.

Zehn Jahre Förderung der Koordinationsstelle Männer in Kitas sind definitiv zu kurz, um einen dauerhaften Bewusstseinswandel in der Bevölkerung zu erreichen.
Außerdem tritt ein Phänomen wieder stärker hervor, dass ich längst überwunden glaubte: Die unterschiedliche Ansprache von Jungen und Mädchen in der Werbung und durch das Marketing. Als ich kürzlich eine Jeans für meinen noch nicht drei Jahre alten Enkel Max kaufen wollte, kam ich mit einer jungen Mutter ins Gespräch. Sie erklärte mir, dass die Jeans in meiner Hand aber eine Mädchenjeans sei, weil auf dem Knopf ein Herzchen sei. Die würde ihr Sohn nicht anziehen.

Kinder wachsen heute also in einer gewissen Dichotomie auf: Auf der einen Seite erwartet die Gesellschaft von Jungen und Mädchen, dass sie frei von Klischees oder Stereotypen einen Beruf wählen, auf der anderen Seite werden sie zum Beispiel durch Spielzeug, Schulranzen usw. als Jungen oder Mädchen angesprochen und beeinflusst. Ich hoffe, dass die Kinder es wie Max halten: Er spielt sehr gern mit Autos, nimmt seine Tiere mit ins Bett oder in die Kita, kocht mit mir – und suchte sich im Sommer einen pinkfarbenen Schwimmring mit Fabelwesen aus!