30.05.2018

Hohe Anforderungen in der Ausbildung – Das schafft nicht jeder

„Die hohe Bereitschaft der Träger hat mit dazu beigetragen, dass wir diese Ausbildung nun als Regelform weiterführen, also quasi ins vierte Jahr gehen“. Interview mit Harald Engelhard aus Wiesbaden

Foto: privat

Harald Engelhard ist Abteilungsleiter für die Kindertagesstätten bei der Stadtverwaltung Wiesbaden. Er ist Ansprechpartner für ca. 180 Kindertageseinrichtungen in Hessens Landeshauptstadt. Er berichtet über den Erfolg des Wiesbadener Modellprojekts im Rahmen des ESF-Bundesmodellprogramms „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“*, das in der Trägerschaft der Landeshauptstadt Wiesbaden gemeinsam mit der MitInitiative e.V. liegt. Die Landeshauptstadt Wiesbaden wird das Projekt für Quereinsteigender fortführen und richtet aktuell den 4. Ausbildungsjahrgang ein.

Wie viele Quereinsteiger/innen befinden sich derzeit in Ihrem Projekt in der Ausbildung?

Im 1. Jahrgang befinden sich noch 16 Teilnehmende, sechs sind ausgeschieden, davon sind fünf Männer. Das ist die Hälfte der zehn Männer, die gestartet sind. Zwei haben aus privaten bzw. gesundheitlichen Gründen selbst gekündigt, zwei wurden vom Träger gekündigt, zwei haben einen Auflösungsvertrag unterschrieben. Der Männeranteil lag beim Start bei 45%, heute liegt er bei 31,25%.

Wie viele Quereinsteiger/innen werden dieses Jahr ihren Abschluss machen?

Alle 16 absolvieren derzeit die Prüfung.

Wie alt sind die Quereinsteiger/innen in Ihrem Projekt im Durchschnitt?

Im 1. Jahrgang sind die Quereinsteigenden aktuell durchschnittlich 37,4 Jahre alt, die Spanne beträgt 25–50 Jahre.

Aus welchen Berufen kommen sie?

Unter den Teilnehmenden sind zum Beispiel Bürokaufleute, Buchhalter/innen, Informatiker/innen, IT-Systemkaufleute, Jurist/innen, Kfz-Mechatroniker/innen, Koch/Köchin, Medienwissenschaftler/innen, Sportwissenschaftler/innen, zahnmedizinische Fachangestellte.

Mit 22 erwachsenen Frauen und Männer sind Sie ins Programm gestartet. 16 aus dem 1. Jahrgang sind heute noch dabei. Können Sie mehr über die Gründe für den Abbruch sagen?

Wir hatten zum Start wenig Vorbereitungszeit. Nach unserer Bewerbung für das ESF-Bundesmodellprogramm erhielten wir den Bewilligungsbescheid sehr spät. So mussten wir innerhalb von zwei Monaten die Teilnehmenden für die Quereinstiegsklasse finden. Daher konnten wir kein so gründliches Auswahlverfahren durchführen, wie wir es später mit mehr Zeit entwickelt haben, und wie es bei den folgenden zwei Jahrgängen zum Tragen kam. So haben im 1. Jahrgang einige Menschen die Ausbildung begonnen, die wir z. B. in der Auswahlrunde für den 2. Jahrgang nicht mehr aufgenommen hätten. Die Risiken des Abbruchs liegen in den Personen, in ihren Biografien. Sie werden in der Ausbildung mit hohen Anforderungen konfrontiert, mit neuen Erfahrungen und mit parallelem Lernen in Schule und Kita. Dies ist eine große Herausforderung an die Teilnehmenden, es bedarf einer besonders hohen Motivation und viel Durchhaltevermögen.

Haben Sie aufgrund dieser Erfahrungen etwas geändert?

Wir haben auf die Erfahrungen des ersten Jahrgangs reagiert und ein neues Auswahlverfahren entwickelt. Einerseits haben wir die Beratung der Menschen intensiviert, andererseits haben wir gründlicher geprüft, ob sie auch befähigt sind. Quereinsteigende sind eine besondere Zielgruppe. Sie bringen Berufserfahrung mit, sie haben Lebenserfahrung und möglicherweise sogar Erfahrung mit Scheitern gemacht. Aber dann werden sie mit den Anforderungen in einem neuen Berufsfeld konfrontiert. Sie befinden sich in einer integrierten Ausbildung, das heißt sie müssen sowohl in der Praxis als auch in der Theorie den Anforderungen genügen. Diese zu erfüllen, ist nicht leicht. Das ist ein Vollzeitjob, das ist keine Teilzeitausbildung. Sie müssen sowohl die Fähigkeit haben, intellektuell und sprachlich dem Unterricht zu folgen, als auch in der pädagogischen Arbeit Empathie und eine Haltung zu den Kindern zu entwickeln. Viele von ihnen hatten bislang noch keine Erfahrung mit Kindern. Die Menschen, die in diese Ausbildung hineinwollen, muss man auf diese Situation vorbereiten, sodass sie einschätzen können, ob sie das gut leisten könnten. Auch die Kitas muss man auf den Umgang mit lernenden Erwachsenen vorbereiten, sodass sie diese bei Schwierigkeiten unterstützen können. Das ist eine sehr anspruchsvolle Begleitung. Geholfen hat uns im zweiten Jahrgang ein neues Verfahren. Eine Projektgruppe hat intensiv akquiriert, beraten, vorausgewählt. Zudem haben wir mit der Fachschule, der Adolf-Reichwein-Schule in Limburg, eine umfangreiche Einführungsphase für die Teilnehmenden vereinbart. Das hat dann letztendlich auch dazu geführt, dass die Leute, die in die Klassen aufgenommen wurden, im höchsten Maße motiviert, befähigt und interessiert waren, diese Ausbildung gut zu machen.

Vor fast drei Jahren haben Sie angefangen Quereinsteiger/innen auszubilden. Mit welchen Vorstellungen sind Sie gestartet? Was haben Sie sich vom Projekt „erträumt“?

Wir müssen allen Kindern gemäß Rechtsanspruch einen Betreuungsplatz anbieten. Von daher haben wir höchstes Interesse daran, dass es genügend qualifiziertes Fachpersonal gibt. Wir haben als Träger der Jugendhilfe diese Gewährleistungsverantwortung, und es nützt uns nichts, wenn Kitas geschlossen sind oder nicht öffnen, weil sie kein Fachpersonal haben. Deshalb haben wir verschiedene Strategien entwickelt, wie man Fachkräfte an Kommune und Träger bindet. In dem ESF-Modellprogramm haben wir die Chance gesehen, eine neue Zielgruppe zu erreichen. Das haben wir uns erträumt und das ist auch eingetreten.

Auf welche Herausforderungen sind Sie gestoßen?

Die Herausforderungen stellen sich auf mehreren Ebenen. Zum einen waren die Einrichtungen als Ausbildungs-Kitas nicht genügend auf die Anforderung einer „Erwachsenen-Ausbildung“ vorbereitet. Sie kennen zwar das System des Jahrespraktikums, aber die Quereinsteiger/innen sind eine andere Zielgruppe. In der Regel sind es erwachsene Menschen zwischen 25 und 45, zum Teil könnten es die Väter oder Mütter der Anleiter/innen sein. Zum Zweiten kamen und kommen die Quereinsteigenden unvorbereitet in die Praxis. Die Kitas mussten sich als Lernort darauf einstellen und diesen Menschen eine Lernchance geben. Natürlich haben die Quereinsteigenden auch unrealistische Vorstellungen, was eine Kita ist und realisieren oft erst vor Ort, dass die Kita eine Bildungseinrichtung ist, in der es einen Plan gibt, strategische Ziele und Maßnahmen. Das alles können sich viele im Vorfeld gar nicht vorstellen. Zudem gibt es auch in der Fachschule hohe Anforderungen. Zum Teil haben die Quereinsteigenden zehn, fünfzehn Jahre nicht mehr in der Schule gesessen. Sie müssen erst mal wieder lernen zu lernen. Das sind die Herausforderungsfelder, die wir sehen. Aber vom Prinzip haben wir das gut hingekriegt. Die Abbruchquote ist nicht mehr hoch. Aber trotzdem: Jeder, der abbricht, ist einer zu viel.

Was haben Sie gemacht, um wie Sie sagten, es gut hinbekommen zu haben?

Wir begleiten die Quereinsteigenden intensiv in Schule und Praxis. Der Overhead ist gut ausgestaltet. Wir haben eine arbeitsfähige Projektgruppe gebildet, mit einem Projektleiter, einem Fachschulkoordinator, der die Aufgabe hat, den Studierenden bei den schulischen Aufgaben zu helfen, und der auch als Reflexionspartner in der Fachschule zur Verfügung steht. Dazu kommen zwei sehr erfahrenen Erzieher/innen als Praxiskoordinator/innen, die regelmäßig die Quereinsteiger/innen und die Anleiter/innen in den Kitas besuchen und sie in allen Fragen unterstützen. Finanziert wird das durch das ESF-Bundesmodellprogramm. Wir als Träger der Jugendhilfe steuern die Prozesse, weil wir das Projekt erfolgreich gestalten wollten und wollen. Der erfolgreiche Verlauf des Projekts und die hohe Bereitschaft der Träger, die sich zusammengeschlossen haben, haben dazu beigetragen, dass wir diese Ausbildung nun als Regelform weiterführen, also quasi ins vierte Jahr gehen.

Sie haben sich also entschieden, das Programm fortzuführen: Wie soll es finanziert werden?

Ja, wir verstetigen diese Ausbildung. Es war ein Ziel der Teilnahme am ESF-Modellprogramm, diese Ausbildungsform zu testen. Es war unser Traum, in Hessen in ein Kombinationsmodell von Ausbildung einzusteigen. Bisher war das nicht möglich. Mittlerweile ist die Ausbildungsverordnung geändert worden und es ist möglich, die dreijährige praxisintegrierte Ausbildung auch in Hessen anzubieten. Seit Frühjahr 2018 ist das rechtsgültig. Auf dieser Grundlage haben wir den „4. Jahrgang“ gestartet und machen ab dem 1. August 2018 weiter ohne ESF-Förderung. Wie das finanziert wird? Wir haben eine Maßnahmenfinanzierung im Haushalt der Landeshauptstadt Wiesbaden verankert: Die Quereinsteiger/innen sind sozialversicherungspflichtig in den Kitas in Vollzeit beschäftigt. Sie werden für die Fachschule freigestellt und erhalten eine Vergütung die 50% der Entgeltgruppe S4 des TVöD entspricht. Die Träger, die eine/n Quereinsteiger/in beschäftigen, können aus dem städtischen Fachkräftegewinnungsfonds einen Personalkostenzuschuss von 50 Prozent hiervon beantragen.

Was wird sich im vierten Jahrgang ändern?

Für die Teilnahme am ESF-Modellprogramm ist es eine Voraussetzung, dass die Leute fachfremd sind. In den Einrichtungen sind aber viele Menschen mit fachnahen Berufserfahrungen, die jetzt als Fachkraft nachqualifiziert werden sollen. Es gibt unheimlich viele Menschen, die in diesem Bereich zum Beispiel in der nachschulischen Betreuung arbeiten oder in Kinderzentren. Dieser direkte Übergang in das Programm war bislang sehr schwer bzw. gar nicht möglich. Das ändern wir jetzt natürlich. Wir sind sogar sehr interessiert daran, diese Fachkräfte ins Programm reinzunehmen. Was beim ESF-Modellprogramm ein Ausschlusskriterium war, ist bei uns ein Wunschkriterium.

 

* Im Rahmen des Bundesmodellprogramms „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ fördert das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) in den Jahren 2015 bis 2020 bundesweit Projekte aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF), die für die besondere Zielgruppe der Berufswechslerinnen und Berufswechsler erwachsenengerechte und geschlechtersensible Ausbildungsmöglichkeiten zur/zum staatlich anerkannten Erzieherin/Erzieher schaffen oder weiterentwickeln. Im Programm werden die Fachschülerinnen und Fachschüler parallel zu ihrer Ausbildung in einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsverhältnis in einer Kita beschäftigt und erhalten eine angemessene Vergütung