08.10.2018

Heterogenität ist einfach da!

Es bedarf viel Fingerspitzengefühl, damit sich jede/r eingeladen fühlt, sich mit Heterogenität auseinander zu setzen. Judith Linde-Kleiner ist Dozentin an einer Fachschule für Erzieher*innen und erzählt im Interview, wie Heterogenität im Fachschulalltag umgesetzt werden kann.

Foto: privat.

Judith Linde-Kleiner ist Dozentin beim PARITÄTISCHEN Bildungswerk LV Sachsen-Anhalt e.V.. Sie unterrichtet erziehungswissenschaftliche Themen mit dem Schwerpunkt Vielfalt. Mit Leidenschaft setzt sich für das Thema ein und engagiert sich dafür, dass an ihrer Fachschule Gender und Diversity immer selbstverständlicher wird.

Frau Linde-Kleiner, wie stellt sich Heterogenität in Ihrer Fachschule dar?

Es ist einfach da. Ganz banal gesagt, ein Haufen unterschiedlichster Menschen trifft hier aufeinander.

Wir sind eine private Fachschule . Bedingt auch durch die Quereinsteigenden liegt der Männeranteil in der Schüler*innenschaft mittlerweile bei über 20 Prozent. Ebenso ist das Alter bei den Schüler*innen sehr durchmischt. Viele sind schon über 30.

Nicht nur bei Geschlecht und Alter zeigt sich Heterogenität. Mittlerweile auch bei der Sprache. Seit zwei Jahren steigt die Anzahl der Anmeldungen für die Ausbildung von Menschen mit Migrationshintergrund. Bei  einigen liegt das Sprachniveau bei B2 und die Sprachkompetenz muss während der Ausbildung noch weiter verbessert werden.

Doch nicht nur die Schüler*innen- sondern auch die Dozent*innenschaft ist vielfältig. Der  Frauenanteil  überwiegt noch, aber unterschiedliche Geschlechter mit unterschiedlicher sexueller Orientierung sind hier vertreten. Zum Beispiel arbeitet eine Dozentin mit Migrationshintergrund bei uns, zwei Dozentinnen leben offen in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft. Dadurch ermutigt gehen auch die Schüler*innen vermehrt offen damit um.

So kann ich sagen, dass Heterogenität zwar einfach da ist, wir zudem aber auch versuchen, Vielfalt auf den unterschiedlichsten Ebenen in der Schule zu leben.

Wir sprechen zum Beispiel immer von ‚primären Bezugspersonen‘ und nicht von ‚Müttern‘.
Es gibt die interne Abmachung an der Fachschule, dass immer mit Sternchen geschrieben wird.
Diversität und Inklusion taucht nicht nur als Lernfeld 3 im Unterricht auf, sondern ist ein Querschnittsthema, es wird immer mitgedacht, z.B. auch bei der Sprachentwicklung.
Natürlich gelingt es uns nicht immer perfekt, aber wir alle sind sehr engagiert bei der Sache.

Woran zeigt sich, aus Sicht einer Fachschule, dass Heterogenität ein Gewinn für Kitas sein kann?

Die Offenheit der Schule und der bewusste Umgang mit der Heterogenität wirkt sich  auch darauf aus, welche Schüler*innen sich bei uns anmelden. Verstärkt fühlen  sich Migrant*innen und Menschen mit homo- oder bisexueller Orientierung angesprochen. Es ist schön, dass die Schüler*innenschaft immer vielfältiger wird. Mir macht es Spaß und ich hoffe, dass die Kinder mit denen die Schüler*innen arbeiten dadurch auch einen Gewinn haben.

Durch das praxisintegrierte Ausbildungsmodell können die Schüler*innen das Thema Vielfalt aus der Schule mit in ihre Praxisphasen nehmen. Sie werden von Phase zu Phase immer reflektierter und schauen viel aufmerksamer auf die Vielfältigkeit der Kinder. Sie sind sensibilisierter für die Geschlechterrollen und Zweisprachigkeit und finden leichter einen wertfreien und anerkennenden Umgang damit.

Aber auch im Schulalltag ist es ein Gewinn. Um es zu veranschaulichen möchte ich ein Beispiel aus dem Unterricht erzählen. Zwischen dem zweiten und dritten Ausbildungsjahr müssen sich die Auszubildenden im Rahmen eines Projektes für 28 Stunden mit dem Thema Vielfalt beschäftigen. Wichtig dabei ist, dass es ein Thema ist, mit dem die Schüler*innen Schwierigkeiten haben und das sie an ihre Hemmschwellen bringt. Das muss als erstes herausgearbeitet werden. In diesem Rahmen entstehen dann immer ganz unterschiedliche spannende Sachen, wie zum Beispiel ein Besuch in der Unterkunft für Asylsuchende .
Bei einer Projektarbeit  haben zwei Frauen ein Theaterstück geschrieben und aufgeführt. Darin spielten sie ein lesbisches Paar. Ob sie im realen Leben lesbisch leben, weiß ich nicht, aber sie sind zumindest kein Paar.  Das tolle war auf jeden Fall, niemand hat gelacht. Das wäre im ersten Ausbildungsjahr noch nicht möglich gewesen.

Den Schüler*innen fällt es leichter bei uns so zu sein, wie sie wollen, bzw. wie sie sind in ihrer ganzen Vielfältigkeit.

Woran zeigt sich, dass Heterogenität mit Herausforderungen verbunden ist?

Ich denke, es gibt zwei Ebenen der Herausforderung.

Zum einen beginnen die Schüler*innen hier in der Schule ihre Ausbildung, haben natürlich schon eine Vergangenheit und bringen Klischeebilder mit. Jetzt treffen sie hier auf ein offenes Haus, in dem die Geschlechterrollen zum Beispiel hinterfragt werden. Sie treffen auf Menschen, Mitschüler*innen, die die Sprache noch nicht perfekt beherrschen und im Unterricht noch Extra-Aufgaben bekommen. Im Miteinander klarzukommen und sich gegenseitig zu akzeptieren mit allen Unterschiedlichkeiten, müssen sie erst einmal lernen.

Auf der anderen Seite findet diese Auseinandersetzung nicht nur in der Schule statt. Die Auszubildenden arbeiten  in den Praxisphasen auch mit anderen Kolleg*innen zusammen. Sie  treffen dort auf viele unterschiedliche Kinder. Auch hier müssen sie lernen, alle anderen in ihrer Heterogenität zu akzeptieren und sich auf sie einzulassen.

Eigentlich ist es eine tägliche Herausforderung. Denn wir werden immer wieder mit Stereotypen und Vorurteilen konfrontiert und müssen uns damit auseinandersetzen. Das ist ja nicht einfach weg plötzlich. Gerade wenn es im Unterricht nicht um das Thema Heterogenität geht ist es wichtig, aufmerksam zu sein, Sachen anzusprechen, Vorurteile und Klischees nicht einfach stehen zu lassen. Das finde ich schon herausfordernd,  mir dann auch die Zeit zu nehmen und darauf aufmerksam zu machen, zu hinterfragen oder zum Beispiel nach alternativen Formulierungen suchen zu lassen.

Es fällt nicht leicht, einen geeigneten Umgang damit zu finden, sich einerseits mit der eigenen Geschichte mit allen Vorurteilen auseinanderzusetzen und aber auch mit den anderen nah an das Thema ranzugehen, es so anzusprechen, dass sich keiner vor den Kopf gestoßen fühlt, sondern sich eingeladen fühlt, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen. Da bedarf es viel Fingerspitzengefühl.

Wie zeigt sich das beispielhaft im Unterricht?

Eine Gruppe hatte beispielsweise die Aufgabe, über die Zielstellungen in der Ausbildung nachzudenken. Das Ergebnis wurde in einem Baum dargestellt. In die Krone wurde dann als höchstes Ziel geschrieben: ‚Staatlich anerkannter Erzieher‘. Anstatt einfach nur platt zu sagen, „das ist aber falsch“, und mir dann hinter dem Rücken der Gender-Stempel aufgedrückt wird, habe ich vorsichtig die Frage in den Raum gestellt „Was wollen die Frauen denn werden?“ Nach einer kurzen Diskussion, kam die Gruppe von alleine auf die Idee, dass es wohl passender wäre, die Schreibweise zu ändern.

Oder wenn es um die jugendliche sexuelle Entwicklung geht, frage ich zum Beispiel die Frauen dann nicht nur nach ihren Partnern sondern auch nach Partnerinnen. Und ich nehme nie nur heteronormative Fallbeispiele. In einem Fallbeispiel kamen beispielsweise nur Männer vor, ein Junge mit seinen Vätern und ein Erzieher. Manchmal wird das hinterfragt, manchmal wird es aber auch einfach nicht weiter thematisiert.

Welche Schritte müssten Fachschulen gehen, um sich hinsichtlich Heterogenität weiter zu entwickeln? Was müsste dazu ggfls. gesellschaftspolitisch angeschoben werden?

Wenn ich mich erst einmal auf die politische Ebene begeben darf, kann ich nur feststellen, dass es sehr schwierig ist, im Ausland erworbene Abschlüsse anerkennen zu lassen. Oft liegt das an der Gesetzeslage. 

Dabei hat jetzt schon jedes fünfte Kind einen Migrationshintergrund und es wäre so wichtig, dass auch die Fachkräfte heterogener werden würden. Eine gute Durchmischung wäre hilfreich, dass sich alle Kinder repräsentiert fühlen.

In Bezug auf unsere Fachschule wäre es natürlich schön, wenn die Schüler*innenschaft noch heterogener werden würde.

Aber auch im Team würde ich mir die eine oder andere weiter gehende Heterogenitätsdiskussion wünschen. Das Thema ist natürlich mein Steckenpferd und ich lebe das an der Schule am konsequentesten. Doch auch die meisten anderen im Team machen es ganz hervorragend. Viele tragen das Thema im Querschnitt mit sich rum. Und was ganz wichtig ist, von der Schulleitung kommt viel Unterstützung zu Heterogenität. Sie kämpft zum Beispiel dafür, dass ausländisch Abschlüsse anerkannt werden und engagiert sich sehr dafür, dass Heterogenität ein Querschnittsthema wird. Diese Unterstützung der Leitungsebene ist sehr hilfreich ist. Das ist ein wichtiger Qualitätsfaktor.

Zeit ist natürlich auch ein wichtiger Faktor, aber da sind wir recht gut aufgestellt. Für die Umsetzung von Heterogenität braucht es viel Vor- und Nachbereitung im Alltag und einen intensiven Austausch mit den Kolleg*innen. Denn es bleibt eine tägliche Herausforderung, im Unterricht alle mit zunehmen mit ihren Unterschiedlichkeiten, wie das Alter, die Vorausbildungen, die Sprachkenntnisse. Es sitzen ja alle in einer Klasse zusammen und ich muss immer wieder ein Gleichgewicht zwischen Überforderung und Herausforderung finden. Der Unterricht muss differenziert aufgebaut werden, zum Beispiel indem ich mehrere Texte zu einem Thema ausgebe, damit für jedes Niveau etwas dabei ist. Die Klassen sind immer anders zusammengesetzt. Heterogenität muss immer wieder neu gedacht werden, es gibt keine pauschale Lösung wie sie an der Fachschule umgesetzt oder gestaltet werden kann.

Danke für das Interview.