27.10.2016

„Bei uns zählt der Einzelne schon wirklich was“

Der Beruf hat die Quereinsteigenden geprägt. Sie bringen eine Menge in die Praxis mit, aber man muss sie selbst entscheiden lassen, wie viel sie davon einbringen möchten. Interview mit Barbara Tauber.

Foto: privat.

Barbara Tauber ist Dozentin für „Kulturarbeit und Identität“ an der Euro Akademie in Berlin und Gesamt-Koordinatorin des ESF-Bundesmodellprogramms „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“. Die Schule arbeitet mit acht Kooperationseinrichtungen zusammen. Bislang hat noch niemand, der über die Euro Akademie an dem Projekt teilnimmt, die Ausbildung abgebrochen. Im Interview stellt Barbara Tauber vor, wie die Dozenten/innen an der Euro Akademie mit den Studierenden arbeiten – und wie diese sich auf das am 19. November in Berlin stattfindende Barcamp für Quereinsteigende vorbereiten.

Frau Tauber: Wie viele Frauen und Männer haben im ersten Jahrgang am ESF-Bundesmodellprogramm teilgenommen?

Im ersten Jahrgang waren es 22 Personen, elf Frauen und elf Männer.

Aus welchen Berufen kamen sie?

Sie kamen aus allen möglichen Berufen, darunter auch Grafiker/innen und Kameraleute. Von der Schulleitung war gewollt, viele Künstler/innen dabei zu haben. Kreativität hat an unserer Schule einen hohen Stellenwert. Da ich von Anfang an dabei bin, habe ich auch das Assessment-Center mitgestaltet und war am Auswahlverfahren beteiligt und bin von dem Anspruch abgerückt, vornehmlich Künstler/innen aufzunehmen. Da wir unter anderem auch den Männeranteil steigern wollen, möchten wir unter unseren Teilnehmenden eine möglichst große Vielfalt. Da finde ich es auch gut, wenn ein Bauarbeiter oder eine Bauarbeiterin darunter ist, wenn auch klar ist, dass Geschlecht und ein biografischer Hintergrund als Bauarbeiter/in keine pädagogischen Qualifikationsmerkmale an sich sind. Dazu ist ja schließlich die Ausbildung da. Nach den Erfahrungen, die wir mit diesen Quereinsteigenden gemacht haben, stehe ich voll und ganz zu dieser Entscheidung, weil ich glaube, dass Jungen und Mädchen auch Männer brauchen, die aus klassischen Männerberufen kommen. Um beim Beispiel des Bauarbeiters zu bleiben: Er hat für eine Krippe eine kleine Werkstatt gestaltet in der er zusammen mit dem Team und den Kindern werkeln kann. Die Kleinen sind nun ganz stolz, dass sie einen Nagel mit richtigem Werkzeug in ein Brett hauen können. Sie sollen ja leben lernen und dazu gehört auch, dass sie das Leben in seiner ganzen Bandbreite kennenlernen.

Nehmen im zweiten Jahrgang ebenso viele Quereinsteiger/innen teil?

Aktuell haben wir 26 Teilnehmende. Dreizehn Frauen und dreizehn Männer. Dieses Mal sind viele Schauspieler/innen und Journalisten/innen dabei. Das ist aber Zufall. Interessant ist: Die beiden ältesten Teilnehmenden sind 56 Jahre alt.

Wie stellen Sie die Klassen zusammen?

Wir achten darauf, dass jeweils die Hälfte Männer und Frauen sind. Auch bei der Auswahl der Dozenten/innen achte ich darauf. Männer sind in dem Erzieher/innenberuf und in der Lehre wichtig, weil sie andere Sichtweisen und Perspektiven haben. Auch für Teams ist es gut, wenn sie gemischt sind. Die Kommunikation ist in diesen Teams anders. Letztendlich habe ich auch immer die kleinen Mädchen und Jungen vor Augen, die so erfahren, dass Männer auch zärtlich und fürsorgend sein können.

Gibt es bestimmte Kriterien, nach denen Sie die Studierenden aussuchen?

Wir haben ja das Assessment-Center. Hier prüfen wir nicht nur die Bewerber/innen, sondern fordern sie auch dazu auf, einen Tag darüber nachzudenken, ob dies wirklich der Job ist, den sie machen möchten. Wir machen eine Gruppenarbeit, um das Sozialverhalten zu eruieren, dann füllen sie einen Fragebogen aus, der zeigt, was für ein Bild vom Kind sie haben. Vor allen Dingen ist die Bewegungsaufgabe spannend, die die Leiterin der Physiotherapeuten hier aus dem Haus macht. Da müssen sich die Bewerber/innen ganz viel bewegen und ich habe die Erfahrung gemacht, dass sich hier oft die Spreu vom Weizen trennt. Es gibt da Leute, die auf gar keinen Fall auf dem Boden herumrutschen möchten, und andere, die immer bestimmen wollen. Und dann noch diejenigen, die sich nicht drauf einlassen können, auch mal den Hampelmann zu machen.

Sie haben also auch schon Bewerber/innen abgelehnt?

Ja, denn wir haben mindestens dreimal so viele Bewerber/innen wie wir nehmen können. Aber es ist ein gemeinsamer Prozess, ein gemeinsames Erkennen, ob der Beruf passt oder nicht. Wir legen da sehr viel Engagement rein. Wenn jemand von uns genommen wird, möchte ich auch, dass das ganze Team dahintersteht. Und es ist mir ganz wichtig, dass wir dann gemeinsam durch dick und dünn gehen.

Wie ist die neue Klasse angelaufen?

Total gut. Heute haben die Studierenden Unterricht und sind vollständig da. Sie haben zum Einstieg drei Wochen lang mit dem Choreografen und Tanzpädagogen Royston Maldoom ein Tanzprojekt gemacht. Royston Maldoom hat das Musikprojekt „Rhythm is it“ choreografiert unter der Leitung der Berliner Philharmoniker und Sir Simon Rattle, in dem Berliner Jugendliche aus sogenannten Problemschulen das Ballett „Le sacre du printemps“ von Igor Stravinsky proben und aufführen. Doch zurück zu uns: In den ersten drei Wochen einer neuen Ausbildung machen wir immer gemeinsam mit den Studierenden ein Kunstprojekt.

Interessant. Wie ist so ein Tag aufgebaut?

Die ersten zwei Stunden haben sie mit mir Lerntagebuch geschrieben. Im Lerntagebuch halten sie fest, was sie lernen. Sie reflektieren das Lernen und welche Entwicklung sie in diesem Prozess machen. Das ist ein Angebot, das sie während der gesamten Ausbildung begleiten kann. Dann folgte eine Reflexionsrunde, in der sie darüber reden konnten, was das Projekt mit ihnen gemacht hat. Und danach haben sie sechs Stunden mit Royston Maldoom getanzt. Das hat die Klasse sehr zusammengeschweißt.

Was ist das Ziel des Kunstprojekts?

Eines der Ziele ist die Förderung des Gruppenbildungsprozesses, denn die Studierenden sollen ja auch gerne zur Schule kommen. Das andere ist, dass sie so von Anfang an den kreativen Charakter der Schule kennenlernen. Sie sollen auch die Hemmungen verlieren, sich darzustellen. Wir halten das für wichtig, damit sie später in der Kita mit den Kindern auch Theaterspielen können und keine Hemmungen haben, sich selbst zu zeigen. Ich halte es für eine der wichtigsten Eigenschaften, dass Erzieherinnen und Erzieher authentisch sind. Das versuchen wir, damit hinzukriegen. Sie bekommen zudem auch Handwerkszeug für die Praxis mit. Denn direkt nach dem Projekt gehen sie ja das erste Mal in die Kita und da haben sie dann schon die ersten Instrumente in der Hand.

Haben Sie aufgrund der Erfahrungen nach einem Jahr ESF-Modellprogramm den neuen Jahrgang anders strukturiert?

Wir hatten das Problem, dass wir mit einem ganz neuen Curriculum an den Start gehen mussten. In Berlin gibt es einen neuen Rahmenlehrplan. Wir mussten das Curriculum deswegen ganz neu entwickeln. Mit ins neue Curriculum haben wir die Praxis-Theorie-Brücke genommen. Immer am ersten Tag, wenn die Studierenden zum Theorieblock in die Schule kommen, findet eine Reflexionsrunde statt, in der alle erzählen, was in der Praxis los war und was theoretisch aufgearbeitet werden muss. Aufgrund des neuen Curriculums, das sehr stark mit Lernsituationen arbeitet, erstellen die Studierenden nun in der Reflexionsrunde eine Lernsituation. Ein Beispiel: Ein Studierender hat in der Praxis Folgendes erlebt: Ein Kind hatte Geburtstag und brachte stolz einen Kuchen mit, der jedoch mit Gummibärchen dekoriert war. Es stellte sich das Problem, dass muslimische Kinder keine Gelatine essen dürfen und es gibt auch ein veganes Kind in der Gruppe. Daraus entwickelten die Studierenden ein Fallbeispiel, formulierten die Fragestellung und gaben die in den Unterricht. Die Dozenten/innen arbeiten damit, müssen aber keine Lösungen parat haben, sondern Lösungswege anbieten. Die Studierenden sollen mit dem Gefühl aus dem Unterricht gehen, einen Schritt weitergekommen zu sein.

Gibt es noch andere Themen, die unter den Nägeln brennen?

Männliche Erzieher haben im Berufsalltag manchmal mit Vorurteilen zu kämpfen. Auch das wird besprochen. Wenn sie zum Beispiel erzählen, dass sie nicht wickeln dürfen. Sogar in einer weltoffenen Stadt wie Berlin kommt es vor, dass Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder von Männern gewickelt werden. Auch das ist ein Thema, das wir aufgreifen und in den Unterricht mit hineinnehmen und versuchen zu bearbeiten.

Bislang gibt es an Ihrer Schule noch keine Ausbildungsabbrecher/innen. Wie erklären Sie sich das?

Ich glaube, dass das Zufall ist. Ich fände es übergriffig zu sagen, dass ich alles so gut unter Kontrolle habe, dass niemand abbricht. Andererseits ist es schon so, dass ich als Leiterin des Projekts sehr möchte, dass wir gemeinsam unser Ziel erreichen. Zudem glaube ich auch, dass in der künstlerischen Ausrichtung des Ausbildungsganges ein großes Potenzial liegt. Durch Kunst kann man manchmal tiefer in Probleme eintauchen, kann daraus gestalten und sich selbst damit zum Ausdruck bringen. Sie fördert die Studierenden, denn Erzieher/innen müssen kreativ sein, weil sie kreative Lösungen brauchen. Kunst hat das Potenzial dazu, dies zu fördern. Also glaube ich schon, dass unser künstlerischer Schwerpunkt zu unserem Erfolg beiträgt. Auch dass wir ein Assessment machen, und die Bewerber/innen sich einen Tag lang Gedanken über den Beruf mit all seinen Konsequenzen machen können. Zudem betreuen wir die Studierenden in allen Lebenslagen, auch in Situationen, die eventuell zu einem Abbruch führen könnten. Bei uns zählt der Einzelne schon wirklich was.

Sie arbeiten ja mit Quereinsteigenden zusammen. Gibt es da etwas, auf das man in der Ausbildung besonders achten sollte?

Ich bin da mittlerweile vorsichtig was die beruflichen Ressourcen betrifft. Wir haben zum Beispiel einen Kameramann. Und wir dachten toll, der soll jetzt bitte fotografieren. Der fand das aber total doof am Anfang, denn er wollte ja Erzieher werden. Es war von uns ein Fehler, ihn gleich in die Schublade Kameramann zu stecken. Aber dennoch: Der Beruf hat die Quereinsteigenden geprägt. Sie bringen eine Menge in die Praxis mit, aber man muss sie selbst entscheiden lassen, wie viel sie davon einbringen möchten.

Für die Quereinsteigenden findet am 19. November das Barcamp in Berlin statt. Es steht unter dem Motto: „Was hilft mir als Quereinsteiger/in, meine Ausbildung erfolgreich zu absolvieren?“ Wie bereiten Sie ihre Studierenden darauf vor?

Ich werde sie nicht vorbereiten. Das ist das Ding der Studierenden. Wir haben jedoch beiden Klassen gesagt, dass sie hingehen sollen. Denn es ist ihr Projekt, das sie mitgestalten und mitentwickeln können. So wie wir unsere bundesweiten Konferenzen zu dem Projekt haben, sind jetzt mal die Studierenden dran. Sie haben beim Barcamp die große Chance, diejenigen zu sein, die eine neue Ausbildung gestalten. Für angehende Erzieher/innen ist dies zudem ein wichtiger Prozess, jetzt schon zu überlegen, wie man lernen kann. Und nicht erst damit anzufangen, wenn man schon am Kind arbeitet.

Werden die Studierenden der Euro Akademie eigene Ideen mitbringen?

Auf der Fachtagung, die wir vor kurzem veranstaltet haben, gab es tolle Projektarbeiten der Studierenden. Ich könnte mir vorstellen, dass sie den Tastkasten „Wie fühlt sich Ausbildung an“ mitbringen. Oder das Ressourcenspiel. Bei dem Spiel bekommen die Mitspieler/innen Karten mit Ressourcen in die Hand und müssen anhand dieser Vorgaben erklären, warum man damit in einer bestimmten Situation gut erziehen kann. Das Spiel greift auf ihre Berufserfahrungen zurück.

Was sollte das Barcamp den Studierenden bringen?

Dass sie das Zepter ihrer Ausbildung selbst in die Hand nehmen. Ich hoffe, dass sie denken: Wir sind in dem Projekt so wichtig, dass wir eine eigene bundesweite Konferenz dazu haben. Und dass sie erkennen, dass sie ein ganz wichtiger Teil des Projektes sind.

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