18.09.2017

Fachschule und Ausbildungsplatz unter einen Hut kriegen

Im Interview mit Niklas Joachim über Herausforderungen in der berufsbegleitenden Erzieherausbildung in Berlin.

Foto: privat.

Niklas Joachim (29) macht eine berufsbegleitende Erzieherausbildung im Pestalozzi-Fröbel-Haus (PFH), er ist im dritten Ausbildungsjahr. An zwei Tage in der Woche besucht er dort die Seminare, an drei Tagen arbeitet er in einer Türkisch-Deutschen Kindertageseinrichtung in Berlin Charlottenburg. Im Rahmen seiner Ausbildung hat er eine Umfrage unter seinen Mit-Studierenden erstellt, um Daten über Rahmenbedingungen und die Zufriedenheit mit den Praxiseinrichtungen zu erheben. Im Anschluss daran war er an der Organisation einer Podiumsdiskussion mit dem Titel „Im Zwiespalt – Rahmenbedingungen der Erzieher*innen in der berufsbegleitenden Ausbildung“ beteiligt.

https://podiumsdiskussionzwiespalt.wordpress.com/ | Link zur Podiumsdiskussion

Sie haben eine Umfrage unter Studierenden in der berufsbegleitenden Ausbildung an der Fachschule des PFH gemacht. Warum befinden sich Erzieher/innen in der berufsbegleitenden Ausbildung im Zwiespalt?

Die berufsbegleitende Ausbildung bietet für viele meiner Kommilitoninnen, Kommilitonen und mich den bedeutenden Vorteil, einen neuen beruflichen Weg einzuschlagen, der uns – stehen wir doch alle im Leben – eine finanzielle Vergütung verspricht. Zudem handelt es sich bei der berufsbegleitenden Ausbildung um ein wunderbares Ausbildungskonzept, bei dem sich Theorielernen, Anwendung und Reflexion in wöchentlicher Frequenz aufeinander aufbauend wiederholen.

Gesundheitliche Belastungen in der Ausbildung

Andererseits sehe ich übernächtigte Gesichter in den Seminaren. Familie, Partnerinnen und Partner, Freundschaften oder Hobbys bleiben weitestgehend auf der Strecke. Den meisten Studierenden geht die berufsbegleitende Ausbildung schlichtweg an die Substanz. Die Ressourcen sind verbraucht, Krankheitsfälle erfolgen häufiger, die Regeneration dauert länger als zu Beginn der Ausbildung. Gelegentlich höre ich von Studierenden: „Das Erste, was ich nach der Ausbildung mache, ist, nicht zu arbeiten“, wobei sie zunächst mit großer Motivation und Lernbereitschaft eingestiegen sind.

Fachschule und Ausbildungsplatz unter einen Hut kriegen

Die Ursachen liegen grob formuliert an unserer Doppelbelastung, derer sich vielleicht weder die Dozentinnen und Dozenten, noch die Kolleginnen und Kollegen bewusst sind. Diese setzt sich zusammen aus einer Präsenzzeit in der Fachschule und der Arbeitszeit in der Einrichtung. Wir Studierenden werden in Berlin bis zu 100 Prozent auf den Betreuungsschlüssel der Praxiseinrichtungen angerechnet. Darüber hinaus kommen Vor- und Nachbereitungszeiten für die Schule dazu. Neben der allgemeinen Verinnerlichung des Stoffes sind an unserer Fachschule um die 32 schriftliche und mündliche Leistungsnachweise jährlich zu erbringen – fast wöchentlich einer, nimmt man die Schulferien aus. In der Einrichtung braucht es ebenfalls eine Vor- und Nachbereitung, die weit höher anzusetzen ist als die für die Kolleginnen und Kollegen, die schon Berufserfahrung haben. Und viele Themen müssen ausgearbeitet werden, noch bevor man sie in der Fachschule lernt, da sie akut in der Arbeit mit dem Kind gebraucht werden. Ein neues Lernfeld für viele von uns ist die Konfrontation mit neuen Belastungssituationen. Diese ergeben sich durch die Arbeit mit sensiblen, emotionalen, bewegten oder vom Schicksal benachteiligten jungen Menschen.  Und jeder Konflikt, ob mit Kindern, Eltern, Kolleginnen oder Kollegen, verstärkt diesen Umstand.

Nicht allein der zeitliche Aufwand, sondern auch die Rahmenbedingungen wurden bemängelt. Den Unmut hörte man hier und da in den Seminaren. Ebenso bemerkte ich eine Unwissenheit bei meinen Kommilitoninnen und Kommilitonen wie auch bei mir, welche Forderungen von Seiten des Teams oder der Leitung eigentlich „Standard“ sind.

Umfrage zur Zufriedenheit

Mit einer Umfrage haben wir die Zufriedenheit der Studierenden mit den Praxiseinrichtungen und eine Einschätzung der Rahmenbedingungen der berufsbegleitenden Ausbildung bezogen auf die praktische Arbeit erfragt. Das Ziel dieser Umfrage war es, eindeutige Ergebnisse zu erhalten, um mit ihnen Transparenz zu schaffen. Eine Transparenz, die aufzudecken vermag, welche Leistung von uns abverlangt wird. Eine Transparenz, die zeigt, welche Wertschätzung uns entgegengebracht wird. Aber auch eine Transparenz, die uns in unserer Verhandlungsposition gegenüber den Leitungen und den Trägern stärkt. Die Umfrage erfolgte anonym, damit sich keiner seiner Situation schämen musste. Eine zentrale Rolle neben der Zufriedenheit mit der Praxiseinrichtung spielte hier auch die Vergütung. Nicht alle Bewerber/innen kennen, bevor sie mit der Ausbildung beginnen, die Tariftabellen des Landes Berlin. Erst recht findet man wenig Auskunft, welcher Tarifstufe man zugeordnet wird. Wenn man geschickt recherchiert, findet man eine Empfehlung der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), die die Studierenden mindestens mit „Angestellten in der Tätigkeit einer Erzieherin“ (TVL-Berlin Tarifstufe E 5) gleichstellt. Ein Arbeitsvertrag vor Antritt der Ausbildung ist jedoch für die Ausbildungsplatzvergabe der Fachschulen obligatorisch. Eine offizielle Anlaufstelle für Bewerber zum Zwecke des Einholens von Informationen sucht man vergebens.

Verdienstunterschiede

Die Umfrage unter insgesamt 66 Studierenden der drei berufsbegleitenden Klassenstufen 2014/15, 2015/16 und 2016/17 der Fachschule des Pestalozzi-Fröbel-Hauses brachte folgende  Ergebnisse: Jeder dritte Studierende gab an, zum Stand Dezember 2016 einen geringeren Lohn als TVL E 5 erhalten zu haben. Das entsprach einem Bruttogehalt von unter 1080 Euro (netto Steuerklasse I unter 850 Euro) für eine 20 Stunden Arbeitswoche in der Praxiseinrichtung oder unter 1300 Euro (netto unter 980 Euro) für eine 24 Stunden Arbeitswoche im ersten Ausbildungsjahr. Lediglich 9 Prozent erhielten ein Bruttogehalt über Tarifstufe TVL E 5. An dieser Stelle soll noch einmal angemerkt werden, dass staatlich anerkannt Erzieher/innen im öffentlichen Dienst nach Tarifstufe TVL E 8 bezahlt werden. So wundert es nicht, dass nicht wenige Studierende ihren Lebensunterhalt (und den ihrer Kinder) nur deswegen bestreiten können, da sie vom Amt eine Aufstockung erhalten oder von dem oder der Lebensgefährt/in mitfinanziert werden. Die Anzahl der Urlaubstage schwankt um die 29 Tage im Jahr. 56 Prozent aller Befragten erhalten Urlaubs- und Weihnachtsgeld.

Praxisanleitung

Lediglich 59,1 Prozent aller Befragten erhalten Anleitungsgespräche in der Praxiseinrichtung. In diesen Gesprächen wird die pädagogische Arbeit mit einer Kollegin oder einem Kollegen reflektiert. Ebenso dienen sie zum Beispiel der Strukturierung der Arbeit, dem Abgleich mit einem Ausbildungsplan oder der Festlegung von Lernzielen. Gut die Hälfte aller Befragten, die Anleitungsgespräche erhalten, bekommen diese unregelmäßig oder nur auf Anfrage. Von denen die Anleitungsgespräche erhalten antworteten 71,8 Prozent, dass diese Gespräche in den vertraglich vereinbarten Arbeitsstunden, also der bezahlten Arbeitszeit, vorgesehen sind. Alle anderen lassen sich in ihrer Freizeit anleiten. Noch enttäuschender ist in dem Fall, dass lediglich etwas mehr als 60 Prozent aller Studierenden des Ausbildungsjahrganges 2016/17 Anleitungsgespräche erhalten. Dies ist der erste Jahrgang, in dem die Praxiseinrichtungen der Studierenden Gelder vom Senat bereitgestellt bekommen, um Anleitungsgespräche zu finanzieren.

Ausbildungsplätze finden

Eindrucksvoll ist auch der Wert von 51,5 Prozent aller Befragten, die angaben, dass sie mittlere bis drastische Schwierigkeiten hatten überhaupt eine Praxiseinrichtung zu finden. Insgesamt 16,2 Prozent sagten sogar, sie nahmen, was sie bekamen. Diese Werte mögen mit der Tatsache korrelieren, dass sich jedes Jahr im Frühjahr zwischen 3100 (Jahr 2014) und 3500 (Jahr 2016) angehende und damit unausgebildete Studierende auf Erzieher/innenstellen bewerben (Quelle: Senatsverwaltung für Bildung Jugend und Familie: Zahlen Daten Fakten für Berufliche Schulen). Außerdem sind wir als berufsbegleitende Auszubildende, trotz Fachkräftemangels in Berlin, unattraktiv. Wir sind Arbeitskräfte, die zumeist keine Erfahrung und Referenzen im Erzieher/innenberuf haben, aber zu 100 Prozent auf den Betreuungsschlüssel angerechnet werden sollen. Auf die Schwierigkeiten, einen Arbeitsvertrag zu erhalten, weist auch der Wert von 79,4 Prozent aller Befragten hin, die angaben, nur teilweise bis gar nicht auf die Formulierungen im Arbeitsvertrag Einfluss nehmen zu können. 33,8 Prozent sagten sogar, sie mussten den vorformulierten Arbeitsvertrag bedingungslos akzeptieren. 

Vorbereitung pädagogischer Angebote

Unter den Befragten gaben 44,1 Prozent an, dass sie in der Praxiseinrichtung keine bezahlte Vorbereitungszeit gewährt bekommen. Alle pädagogischen Angebote werden also von ihnen während der Arbeit am Kind oder in der Freizeit geplant.

Alleingestellt

Ebenso zeigt die Auswertung, dass etwa 13 Prozent aller Studierenden überwiegend bis immer alleine, also ohne Kollegen/innen in der Betreuung sind. Im Ausbildungsjahrgang 2016/17, also bei den Studierenden, die zu diesem Zeitpunkt im ersten Semester der Ausbildung waren, gab dies sogar jeder Vierte an. Auf die Frage, ob es in den Einrichtungen die Möglichkeit zur Hospitation oder des Hospitiertwerdens gibt, antworteten etwas mehr als ein Drittel der Teilnehmerinnen und Teilnehmer mit „selten“ bis „nie“.

Wertschätzung

Es gibt aber auch erfreuliche Ergebnisse: 94 Prozent aller Befragten gaben an, gleichberechtigt im Team zu arbeiten. Vier von fünf Studierenden gaben außerdem an, an allen Teamsitzungen, Supervisionen usw. teilnehmen zu können. Wir sind also nicht nur zu 100 Prozent im Betreuungsschlüssel vorgesehen, wir werden auch wertgeschätzt und als vollwertige Teammitglieder akzeptiert.

Die vollständige Umfrageauswertung ist hier nachzulesen: https://podiumsdiskussionzwiespalt.wordpress.com/

Ihre Ergebnisse haben Sie bei einer Podiumsdiskussion mit Vertreter/innen aus Verwaltung, Kita, Fachschule und Gewerkschaft diskutiert. Was sind die wichtigsten Ergebnisse der Diskussion?

Die Ergebnisse der Umfrage ließen sich hervorragend für unsere Podiumsdiskussion verwenden. Wir wollten unsere Position nach außen tragen, auf unsere Probleme aufmerksam machen und mögliche Lösungen diskutieren. Darum war es uns auch wichtig, die richtigen Gesprächspartner in die Runde zu holen. Dies waren, wie Sie schon in Ihrer Frage erwähnten, Vertreter/innen aus der Senatsverwaltung, der Kita, der GEW und der Kinder- und Jugendhilfe. Auch Ihre Kollegin Canan Korucu-Rieger, Fachreferentin für „Chance Quereinstieg / Männer in Kitas“ saß ja im Diskussionskreis. Lediglich aus der Politik erhielten wir bedauerlicherweise nur Absagen. 

Es bestand Einigkeit unter allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, dass die berufsbegleitende Ausbildung nicht nur eine „Notlösung“ ist, um dem Fachkräftemangel in Berlin entgegenzuwirken, sondern die Ausbildungsform eine durchaus sinn- und wertvolle Ausbildungsvariante neben der Vollzeitausbildung darstellt.

Die Diskussion machte auch deutlich, dass die Situation der Studierenden eng verknüpft ist mir der schwierigen bildungspolitischen Gesamtsituation. Berichte einiger Rednerinnen und Redner weisen auf einen Notstand hin. Nicht nur die Studierenden fühlen sich überfordert oder alleine gelassen, sondern auch die Einrichtungen. Zwar ersetzt jeder und jede Studierende eine/n fertig ausgebildete Erzieher/in, jedoch kann er oder sie nicht zwangsläufig von Beginn an gänzlich Verantwortung übernehmen. Die Lücken füllt dann das Team. Dieses bewegt sich bei dem in Berlin knapp berechneten Betreuungsschlüssel aber ohnehin am Rande des Machbaren. Leidtragende sind letzten Endes neben den Erzieherinnen und Erziehern die Kinder und Jugendlichen.

Vernetzung, Austausch, Information

Verbesserungsideen wurden zu zwei Themen geäußert. Zum einen wurde vorgeschlagen, die Kommunikation zu fördern. Eine Vernetzung und ein Austausch auf institutioneller Ebene sowie zwischen Fachschulen und Praxiseinrichtungen würden es den Betroffenen ermöglichen, miteinander und nicht gegeneinander zu arbeiten sowie das Lernen und die Praxis besser aufeinander abzustimmen. Die Vernetzung böte die Möglichkeit zur Solidarisierung, um sich Gehör zu verschaffen. Ebenfalls wurde vorgeschlagen, in Berlin ein Informationsbüro einzurichten, an das sich potenzielle Bewerberinnen und Bewerber der Teilzeitausbildung vorab wenden können. Derzeit steht man bei der Informationsbeschaffung ziemlich einsam da und es wundert nicht, dass dieser Mangel an Informationen zur Unterzeichnung kurioser Arbeitsverträge führt. Von Seiten der Senatsverwaltung wurde uns mitgeteilt, dass wir im Ausschuss für Bildung, Jugend und Familie bei bildungspolitischen Angelegenheiten mitberaten und -entscheiden könnten. Die Sitzungen sind öffentlich und finden 14-tägig statt.

Stufenweise Anrechnung auf den Betreuungsschlüssel

Zum anderen wurden verschiedene Vorschläge geäußert, wie man die Rahmenbedingungen für die Studierenden während der Ausbildungszeit verbessern könnte. Die Reduzierung der Anrechnung auf den Betreuungsschlüssel bei gleicher Finanzierung der Studierenden bringt sicherlich die meiste Entlastung für alle. Die Anrechnung auf den Betreuungsschlüssel könnte dann stufenweise entsprechend dem steigenden Kompetenzerwerb erfolgen.

Praxisanleitung für die gesamte Ausbildungszeit

Von ebenso zentraler Bedeutung ist es, hinreichend bezahlte Zeit für die Anleitung zur Verfügung zu stellen. Reflexion und Anleitung sollten über die gesamte Ausbildungszeit ermöglicht werden, also unbedingt über das erste Ausbildungsjahr hinaus. Im aktuellen Koalitionsvertrag ist hierzu zwar schon eine Vereinbarung formuliert, diese steht derzeit aber noch unter Finanzierungsvorbehalt. Des Weiteren wurde vorgeschlagen, dass festgelegt werden sollte, nach welcher Tarifgruppe Berufsbegleitende mindestens entlohnt werden. Der Senat sollte Informationen darüber einholen, ob das Geld, das den Einrichtungen für ihre Auszubildenden bezahlt wird, auch tatsächlich bei den Beschäftigten ankommt.

Welche Möglichkeiten sehen Sie, um Veränderungen anzustoßen?

Ich bin der Meinung, um eine qualitativ hochwertige pädagogische Arbeit und Ausbildung zu gewährleisten, die gleichwohl der Gesundheit der Studierenden und des Teams nicht schadet, sollte das berufsbegleitende Konzept evidenzbasiert und nicht aus einer Finanzierungslosigkeit heraus erfolgen. Falsche bildungspolitische Entscheidungen haben eine zu hohe Tragweite mit Konsequenzen für die Gesundheit der Beschäftigten und für die Erziehung. Sich auf den Idealen und der Aufopferungsbereitschaft von angehenden Pädagogen und Pädagoginnen auszuruhen, ist verantwortungslos und kurz gedacht. Reicht der Politik die Notwendigkeit einer Podiumsdiskussion oder die überall zu verlautenden Stimmen der Betroffenen nicht aus, empfehle ich eine zügige Evaluation der berufsbegleitenden Ausbildung, die die Missstände von offizieller Seite bestätigen sollte. Ein anschließender Maßnahmeplan könnte, so sehe ich es, die oben vorgeschlagenen Ideen enthalten. Wir Studierenden müssen mit unseren 40 bis 60 Stundenwochen, die wir einschließlich aller Vor- und Nachbereitung leisten, entlastet werden. Ein Lernen in der Praxiseinrichtung, aber entbunden von einem Großteil der Verantwortung zu Beginn der Ausbildung, sehe ich als Lösung. Andere Bundesländer machen es vor. Und die GEW schlägt es gegenwärtig mit einem Modell vor, in dem Studierende im ersten Ausbildungsjahr die Kollegen/innen begleiten, im zweiten Ausbildungsjahr zu 50 Prozent im Betreuungsschlüssel vorgesehen sind und erst im letzten Jahr zu 100 Prozent, bei gleichbleibender Entlohnung.

Vielen Dank für das Interview!