03.12.2015

Prof. Dr. Marianne Friese

„Ein durch Rationalität und Emotionalität fundiertes Curriculum kann erheblich dazu beitragen, die fehlende Wertschätzung weiblicher Sorgearbeit historisch zu überwinden und die für personenbezogene Berufe charakteristische Konfliktlinie zwischen Fürsorge und Vermarktung zu verringern.“

Foto: privat.

Prof. Dr. Marianne Friese ist Professorin für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt Berufspädagogik (Gewerbliche Bildung) und Didaktik der Arbeitslehre an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Untersuchung personenbezogener Dienstleistungsberufe mit einem besonderen Fokus auf Gender.

Frau Friese, Sie sprechen in verschiedenen Veröffentlichungen und Vorträgen von einer gendersensiblen Professionalisierung von Care-Work.
Was ist mit gendersensibler Professionalisierung gemeint?

Gendersensible Professionalisierung hat zwei Bezugspunkte: Aus systematischer Perspektive geht es darum, das Spannungsverhältnis weiblich geprägter Berufsstrukturen zwischen historisch gewachsener „Semi-Professionalität“ in der Industriegesellschaft und wachsenden Professionsbedarfen in der aktuellen Dienstleistungsgesellschaft sichtbar zu machen. Seit Ende des 19. Jahrhundert entwickelte sich auf der normativen Basis einer naturalistisch begründeten Konstruktion von Mütterlichkeit und Zuweisung für private und berufliche Sorgearbeit im Feld haushälterischer, pflegerischer und sozialer Arbeit ein geschlechtlich strukturiertes Berufsbildungssystem, das gegenüber den männlich geprägten gewerblich-technischen Ausbildungsformen schulberufliche Strukturen vorsah, verbunden mit einer niedrigeren gesellschaftlichen Bewertung, fehlender ordnungsrechtlicher Standardisierung und niedrigen Standards von Professionalisierung. Diesen Modernisierungsrückstand gilt es auf allen Ebenen der beruflichen und akademischen Ausbildung durch gendersensible Professionalisierung zu überwinden. Das bedeutet, die länderrechtlich geregelten, sehr uneinheitlichen ordnungsrechtlichen Standards und die Vielfalt der Bildungsgänge zu homogenisieren sowie präzise Tätigkeitsbeschreibungen, Qualifikationsprofile und Merkmale personenbezogener Arbeit auszudifferenzieren und in curriculare Ausbildungsstrukturen sowie professionstheoretische und professionspolitische Konzepte der berufliche und akademischen Ausbildung aufzunehmen. Aus dieser Gesamtperspektive zielt gendersensible Professionalisierung auf die Dekonstruktion von Geschlecht und Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit sowie Geschlechtsneutralität in Ausbildungs- und Berufsstrukturen.

Lassen sich Ihre Überlegungen auf die Ausbildung von Erzieher/innen an Fachschulen übertragen? Wenn ja – wie? Wenn nein – wieso nicht? Welche Risiken und welche Gestaltungsoptionen einer gendersensiblen Professionalisierung des Erzieher/innenberufs sehen Sie?

Meine Überlegungen zur gendersensiblen Professionalisierung lassen sich hervorragend für die Ausbildung von Erzieher/innen an Fachschulen übertragen. Dieses gilt erstens für die Überwindung der normativen geschlechtsstereotypen Zuschreibung von Mütterlichkeit und Beruf, die das Berufsbild der Erzieher/in als „Jede-Frau-Tätigkeit“ in spezifischer Weise prägt. Ein zweiter Schritt der Professionalisierung beinhaltet die bundeseinheitliche Gestaltung von ordnungsrechtlichen Standards, Curricula und Bildungsgängen sowie eine einheitliche tarifliche Höherstufung. Optionen für eine Professionalisierung des Erzieher/innenberufs liegen in dem gegenwärtigen Bedeutungszuwachs frühkindlicher Bildung sowie in der beginnenden (Teil-)Akademisierung des Erzieher/innenberufs. Hier bestehen zwar auch Risiken hinsichtlich der Entstehung von Konkurrenz zwischen fachberuflichen und akademischen Ausbildungen sowie Einmündung und Tarifgestaltung in den unterschiedlichen Berufsfeldern. Aufgrund des immensen Fachkräftemangels und der damit verbundenen Bemühungen um Qualitätssicherung auf allen Ebenen der beruflichen und akademischen Ausbildung überwiegen jedoch die positiven Gestaltungsoptionen einer gendersensiblen Professionalisierung des Erzieher/innenberufs.

Sie beanstanden, dass in der deutschen Professionsdebatte Genderstrukturen im Berufs- und Ausbildungssystem nicht ausreichend berücksichtigt werden und fordern, dass die Verbindung von Sorgearbeit und Mütterlichkeit abgelöst wird zugunsten eines durch Rationalität und Emotionalität fundierten Curriculums von Care Work. Dies solle die besondere Verortung von Sozialkompetenz als Fachkompetenz beinhalten.
Wie können wir uns das konkret vorstellen? Was würden Sie Akteuren in der Erzieher/innen-Ausbildung mit auf den Weg geben, die ihr Curriculum der frühkindlichen Erziehung und Bildung dergestalt entwickeln wollen?

Für die Erzieher/innenausbildung gilt wie für Care-Berufe insgesamt, dass die enge Verbindung von Mütterlichkeit und Care-Berufen erheblich zu Professionsdefiziten beigetragen hat. Optionen für die Überwindung dieser normativen Zuweisung haben sich durch den seit den 1990er Jahren entstandenen Leitbildwandel in der beruflichen Bildung eröffnet, der soziale und lebensweltliche sowie subjektbezogene Kompetenzen in neuer Weise fokussiert. Aus historischer Perspektive sind Sozialkompetenzen, die unabdingbar an personenbezogene „Arbeit am Menschen“ gebunden sind, stets als „heimliche Ressource“ in Ausbildungs- und Berufsstrukturen eingeflossen. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Perspektivwechsels besteht die Chance, soziale Kompetenzen als Fachkompetenzen in der Erzieher/innenausbildung neu zu verorten. Dazu sind der Prozesscharakter von Erziehungsarbeit mit sozialen, kommunikativen und interaktiven Leistungen ebenso neu zu bestimmen wie merkmals- und sachbezogene Tätigkeitsprofile. Ein durch Rationalität und Emotionalität fundiertes Curriculum kann erheblich dazu beitragen, die fehlende Wertschätzung weiblicher Sorgearbeit historisch zu überwinden und die für personenbezogene Berufe charakteristische Konfliktlinie zwischen Fürsorge und Vermarktung zu verringern. Nicht zuletzt kann der aktuelle Bedeutungszuwachs frühkindlicher Bildung den hohen Beitrag von Erziehungs- und Sorgearbeit zur ökonomischen, kulturellen und sozialen Kapitalbildung der Gesellschaft verdeutlichen.

Sie schlagen vor, fachdidaktische Reflexionsräume und Erfassungsinstrumente im Rahmen der Curricula zur Verfügung zu stellen, um informelle und lebensweltlich erworbene Kompetenzen fachlich anerkennen zu können. Damit verbinden Sie auch mehr Durchlässigkeit in der beruflichen Aus- und Weiterbildung. Für Akteure in der frühkindlichen Erziehung und Bildung, die berufs- und lebenserfahrenen Menschen durch eine Ausbildung einen Quereinstieg in den Beruf des Erziehers/der Erzieherin ermöglichen wollen, ist das eine interessante Perspektive.
Was würden Sie diesen Akteuren bei der Entwicklung solcher Instrumente für die Ausbildung von Erzieher/innen mit auf den Weg geben? Was muss beachtet werden, wenn diese Instrumente und Reflexionsräume gendersensibel und erwachsenengerecht (im Sinne von berufs- und lebenserfahren) gestaltet werden sollen?

Die Umsetzung von Durchlässigkeit und fachlicher Anerkennung von informellen sowie lebensweltlich erworbenen Kompetenzen wird durch ordnungsrechtliche Reformen gestärkt. So wurde mit den KMK-Handreichungen von 1996 der Begriff der beruflichen Handlungskompetenz explizit neben beruflichen und gesellschaftlichen auch an private Situationen gebunden. Mit dieser Perspektive wurde historisch erstmals die Chance eröffnet, die in der Professionsdebatte bislang vernachlässigten Alltags- und Lebensführungskompetenzen für curricular-didaktische Konzepte der beruflichen Bildung nutzbar zu machen. Hier können Curricula der frühkindlich Bildung und Erziehung hervorragend anschließen. Des Weiteren hat die Novellierung des Berufsbildungsgesetzes von 2005 neue Instrumente zur Verschränkung dualer und vollzeitschulischer Ausbildungsgänge, zur Einbeziehung vollzeitschulischer Ausbildung in das Berufsbildungsgesetz sowie Anerkennungen und Zulassung von Berufsfachschulabsolventinnen durch Kammern erzeugt. Wichtige Instrumente zur Beförderung von Durchlässigkeit in der beruflichen Bildung sind ebenfalls durch die Implementierung modularer Strukturen in der vorberuflichen sowie beruflichen Aus- und Weiterbildung entstanden: z. B. Teilzeitberufsausbildung für Menschen mit Familienpflichten, Stufenkonzepte und Ausbildungsbausteine in der dualen Ausbildung sowie anerkannte und zertifizierte Qualifizierungsbausteine in der Berufsvorbereitung. Curriculare Differenzierungen können des Weiteren aus Konzepten des Deutschen und Europäischen Qualifikationsrahmen (DQR, EQR) für frühpädagogische Fachkräfte gewonnen werden.

Für eine gendersensible Anerkennung von informell und lebensweltlich erworbenen Kompetenzen ist zu bedenken, dass in der Ausbildung berufsfeldbezogene didaktische Reflexionsräume und Erfassungsinstrumente für Erfahrungen und Kompetenzen in der Erziehungs- und Familienarbeit zur Verfügung gestellt werden müssen; vergleichbar mit professionsbezogenen Reflexionen betriebspraktischer Erfahrungen. Eine formale Anerkennung von nicht professionell reflektierter Erziehungs- und Mütterarbeit könnte eine erneute Tradierung naturalistischer Konzepte zu Folge haben, die für kurzfristige Qualifizierungen in Helferinnenberufen verwendet werden. In curricular integrierten fachdidaktischen Konzepten hingegen können informelle und lebensweltlich erworbene Kompetenzen eine wichtige Basis für fachliche Anerkennung und Standardisierung sowie Durchlässigkeit in der Aus- und Weiterbildung frühpädagogischer Fachkräfte darstellen.                                      

Was bedeuten Ihre Überlegungen für das Thema ‚Männer in Kitas‘?

In unserem an der Justus-Liebig-Universität Gießen durchgeführten Lehrer/innenbildungsprojekt „Tobias in die Kita und Lena an die Werkbank!?“ stehen Ausrufe- und Fragezeichen für die differenzierte Betrachtung der Fragestellung. In Konzepten der Berufswahl und Berufsorientierung besteht selbstverständlich hohe Priorität, tradierten geschlechtsstereotypen Berufswahlvorstellungen der jungen Generation entgegenzutreten. Gegenwärtig bestehen mit den wachsenden Fachkräftebedarfen in der frühkindlichen Bildung Chancen, dass sich junge Männer zunehmend für personenbezogene Dienstleistungsberufe entscheiden und geschlechtsspezifische Berufswahlmuster abgeschwächt werden. Diese Neutralisierung einer geschlechtsspezifischen Berufswahl verstärkt sich durch zunehmende Bedarfe und erweiterte Optionen für junge Frauen zur Einmündung in MINT-Berufe (Mathematik-, Ingenieur-, Natur-, Technikwissenschaften). Aus Genderperspektive ist dieser Prozess jedoch auch kritisch reflektierend zu beobachten. Wenn  empirische Entwicklungen verdeutlichen, dass im Bereich der frühkindlichen Bildung der Männeranteil im Bereich der Leitungsfunktionen und im Bereich der Lehrenden vergleichsweise hoch ist und die Forderung nach männlichen Fachkräften in der Frühpädagogik mit Professionsaspekten oder gar mit der besonderen Bedeutung für Söhne von alleinerziehenden Müttern begründet wird, bestehen hier Risiken der Abwertung weiblicher Arbeit. Hier besteht die Gefahr, dass unter dem Deckmantel der Professionalisierung eine erneute geschlechtliche Hierarchisierung und Arbeitsteilung sowie Verhinderung von Frauen für Aufstieg und Leitungspositionen vollzogen wird. Vor dem Hintergrund veränderter Lebens- und Berufswahlmuster von Jugendlichen, die auch Fragen privater Lebensplanung und subjekt- wie lebensweltbezogener Kompetenzen einbeziehen, eröffnet sich jedoch auch die Chance, dass sich junge Männer zunehmend für personenbezogene Berufe entscheiden und geschlechtsspezifische Berufswahlmuster  tendenziell abgeschwächt werden. Aus dieser Perspektive erscheint es dringend erforderlich, die Berufswahl für „Tobias in die Kita und Lena an die Werkbank“ pädagogisch reflektierend und förderlich für beide Geschlechter zu gestalten.

Vielen Dank für das Interview!