16.05.2019

Kitas im Aufbruch

Kinder in Kitas kommen aus allen sozialen Schichten. Was eine Banalität ist, erweist sich bei genauerem Hinschauen als herausfordernd. Interview mit Prof. Dr. Carsten Wippermann.

Foto: Carsten Wippermann

Herr Prof. Dr. Wippermann, Sie haben im Sommer 2017 eine Untersuchung durchgeführt, die aktuell von der Koordinationsstelle unter dem Titel »Kitas im Aufbruch – Männer in Kitas« veröffentlicht und Online zur Verfügung gestellt wurde. Im Zentrum der Studie stehen gleichstellungspolitische Fragen sowie die Rolle der Kitas aus Sicht von Eltern und pädagogischen Fachkräften.

Was können Sie zum Thema Heterogenitätsdimensionen aus Ihrem Forschungsprojekt berichten?

Kinder kommen aus allen sozialen Schichten, das ist eigentlich eine Banalität, erweist sich bei einem genaueren Blick aber als herausfordernd. Denn wir beschreiben Gesellschaft seit einigen Jahren schon nicht mehr durch das Schichtungsmodell, sondern aufgrund der dynamischen Prozesse von Pluralisierung und Individualisierung differenzierter über soziale Milieus, die die vielfältigen Lebensweisen und Lebensauffassungen abbilden, damit auch milieuspezifische Erziehungsstile und Erziehungsziele der Eltern sowie ihre Anforderungen an professionelle Dienstleister wie Kindertagesstätten. Dabei zeigt sich, dass in den traditionellen Milieus der „Konservativen“ und „Traditionellen“ immer weniger Kinder geboren werden – allein aus demographischen Gründen. Hingegen kommen die meisten Kinder aus den Milieus der „Benachteiligten“ und „Hedonisten“ am unteren Rand der Gesellschaft, sowie aus den Milieus der „Expeditiven“ und „Performer“, die im gehobenen neoliberalen und postmodernen Bereich der Soziallandkarte positioniert sind. 56 % aller Eltern mit Kindern im kitafähigen Alter kommen aus diesen vier Milieus. Betrachtet man hingegen die Personalstruktur der Erzieherinnen und Erzieher in Kitas, dann kommen diese primär aus den Milieus der „Bürgerlichen Mitte“ und „Postmateriellen“ – allein aus diesen beiden Milieus kommen 60 % aller pädagogischen Fachkräfte in Kitas, dann noch weitere 16 % aus den Milieus der „Expeditiven“. Das bedeutet ganz praktisch im Alltag, dass Eltern und Fachkräfte mehrheitlich aus unterschiedlichen Milieus kommen. Das hat Konsequenzen für die Zusammenarbeit, eröffnet Chancen, birgt aber auch Risiken. Denn es treffen nicht nur fachliche und elterliche Kompetenzen aufeinander, sondern auch unterschiedliche Milieulogiken mit je anderen, oft vorbewussten und gegensätzlichen Vorstellungen von Erziehung, Ausstattung, Kommunikation und Dienstleistung. Wenn es hier Brüche gibt, ist das nicht notwendig ein Mangel oder Nachteil. Das kann im Gegenteil sogar konstruktiv und befruchtend sein. Das kritische Moment ist, auf welcher Augenhöhe sich Eltern und pädagogische Fachkräfte im Alltag begegnen. Hier gibt es ein breites Spektrum: von Eltern mit autoritär formulierten höchsten Erwartungen und Forderungen an die Kita bei oft gleichzeitig anklingenden Zweifeln an Ihrer Kompetenz; bis zu großer Dankbarkeit mancher Eltern für all das, was die Fachkräfte alles tun und leisten. Ein mitentscheidender Faktor ist das Professionsverständnis: Begreifen pädagogische Fachkräfte das, was sie in der Kita tun, als Dienstleistung – und wer ist der Adressat ihrer Dienstleistung: die Kinder, die Eltern, oder eine irgendwie geartete Vorstellung von „die Pädagogik“? Das führt durchaus zu unangenehmen Fragen: Ziehen sich manche Fachkräfte auf ihre Profession als Pädagogen mit der Arbeit am Kind zurück und wehren alle anderen Ansprüche, etwa die Mitverantwortung für die Ermöglichung der Erwerbstätigkeit von Frauen und Männern kategorisch ab – etwa wenn es um Öffnungszeigen und Flexibilität geht? Mit welchem Recht eigentlich? Wird das sachlich wichtige Argument „Kindeswohl“ auch strategisch und taktisch zur Abwehr von solch externen Ansprüchen eingesetzt, wenn es um 24-Stunden-Betreung oder Wochenendbetreuung geht? Schließen sich Fachkräfte und Träger in ihrer fachlichen Professionalität ein und ab und gibt es so etwas wie Professions-Cocooning? Sind pädagogische Fachkräfte mit Eltern in einem Wettstreit um die letztlich höhere Kompetenz, begreifen sie Eltern als Experten ihrer eigenen Kinder? Oder sind Eltern und Fachkräfte in einem Dialog unter der Maßgabe der Anerkennung des Anderen. Wenn der Andere aber eine andere Logik und andere Maximen der Erziehung bringt, können wir beobachten, dass die Milieuprägung ein mitentscheidender und oft nicht reflektierter Faktor ist. Denn die eigene Logik wird nicht automatisch selbstkritisch reflektiert. Das aber ist die eigentlich erforderliche kommunikative Kompetenz von Fachkräften und Eltern in Kitas: Die Logik und inhaltlichen Maximen des jeweils anderen anerkennen, was nicht heißt, diese zu übernehmen und zu bedienen. Aber es geht darum, die Haltung, die Motive und Argumente des Anderen anerkennen und in einen Diskurs treten, auch das das eigene Verhalten daran orientieren. Insofern ist hier ein Dialog zwischen Eltern aus den unterschiedlichen Milieus notwendig. Denn die früheren Selbstverständlichkeiten gelten nicht mehr. Damit sind Kitas gefordert, diesen gesellschaftlichen Wandel aufmerksam zu beobachten, die Vielfalt von Eltern zu sehen, und sich als Dienstleister begreifen für Kinder und Eltern in ihrer Vielfalt. Das ist mühsam, kommt niemals zu einem finalen Ergebnis, ist aber auch das Spannende und aus meiner Sicht eine Kernaufgabe von Kitas.

Gehen aus Ihrer Untersuchung Anhaltspunkte für eine strategische Personalgewinnung hervor?

Im Vergleich zur Milieustruktur von Frauen ist die Milieuzusammensetzung von Männern anders, vor allem soziokulturell „jünger“, aufbruchsorientierter und in gewisser Weise aufgeschlossener für neue Wege. Männer, die als Erzieher in Kitas arbeiten, kommen zwar wie die meisten Frauen auch häufig aus den Milieus der „Postmateriellen“ und „Bürgerlichen Mitte“, aber im Unterschied zu weiblichen Erzieherinnen am häufigsten aus dem Milieu „Expeditive“ und auch sehr häufig aus dem Milieu „Hedonisten“. Mehr Männer in Kitas bringen somit nicht nur eine andere Geschlechterperspektive mit, sondern tendenziell auch andere Milieuperspektiven und -ansätze. Das kommt vor allem jenen Eltern und deren Kindern entgegen, die aus diesen Milieus kommen – sozusagen eine soziokulturelle Ergänzung. Dazu forcieren mehr Männer in Kitas einen Generationenwandel und eine Verjüngung im Personaltableau. Der Altersdurchschnitt der männlichen Erzieher in Kitas ist deutlich jünger als der Erzieherinnen. Das liegt hauptsächlich daran, dass Männer erst seit wenigen Jahren diese Ausbildung wählen und diesen Arbeitsorten tätig sind, aber es ist ein Fakt, der neben dem Aspekt „mehr Männer“ und der breiteren Milieuaufstellung zu mehr Vielfalt beiträgt. Wachsende Vielfalt bedeutet größere Heterogenität. Das bietet neue Impulse für Weiterentwicklung, aber auch Unruhe und Konfliktpotenzial, weil bisherige Selbstverständlichkeiten und (scheinbar) Bewährtes zur Disposition gestellt werden. Das kann man seitens der etablierten Fachkräfte und der Träger als Irritation begreifen, negativ bewerten und einzudämmen versuchen. Man kann die gewachsene Vielfalt aber auch, und das wäre meine Empfehlung, als Chance begreifen, um auf die Vielfalt der Gesellschaft, der Elternschaft und Kinder eingestellt zu sein. Allerdings verlangt dies auch eine Kultur der Akzeptanz und des Managements von Vielfalt. Das erhöht die Anforderungen an die Leitungskräfte, die dafür Unterstützung in Ausbildung, Schulungen und Weiterbildungen benötigen. Hier sind auch die Träger gefordert.

Ein damit indirekt zusammenhängender, verstörender Befund ist, dass 91 % aller weiblichen Fachkräfte in Kitas einen unbefristeten Arbeitsvertrag haben, aber nur 77 % der männlichen Erzieher. Hier gibt es offensichtlich eine systematische Ungleichbehandlung und Benachteiligung von Männern als pädagogische Fachkräfte in Kitas. Warum bekommt ein erheblicher Teil der Männer allein aufgrund seines Geschlechts keine unbefristete Anstellung? Gibt es hier Budgetgründe? Das ist kaum plausibel. Eher spricht einiges dafür, dass Männer in einigen Kitas seitens der Kitaleitung und Träger als Verstörung und Risiko gesehen werden, z.B. für die Zusammenarbeit im Team. Man begegnet in manchen Einrichtungen – bei allem Wohlwollen – Männern mit Vorsicht und Vorbehalt. Dabei spielen auch bewusst oder vorbewusst Vorbehalte in Bezug auf Missbrauch hinein, auch Vorstellungen, dass Erziehung eigentlich ein Frauenberuf ist und männliche Fachkräfte nicht das ganze pädagogische Spektrum abdecken, sondern geeignet sind, um Nischen zu füllen – etwa Technik und Outdoor. Es gibt offenbar ein mehrdimensionales Misstrauen gegen Männer. Es ist eine notwendig Aufgabe der Kitaleitungen und vor allem der Träger, diese Vorbehalte – bei sich und den Mitarbeiterinnen – aufzuklären und auszuräumen. Männer dürfen wegen ihres Geschlechts in diesem Beruf nicht benachteiligt oder in Bezug auf ihre pädagogischen Kompetenzen stigmatisiert und verengt werden.

Lässt sich der Männeranteil angesichts der schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt weiter erhöhen?

Den Anteil männlicher Fachkräfte in Kitas zu erhöhen ist notwendig, aber kein Selbstläufer. Schon heute spüren Einrichtungen und Träger den Fachkräftemangel. Mehr Männer wären ein Baustein zur Lösung. Insofern ist die Parole „mehr Männer in Kitas“ nicht nur aus pädagogischer Sicht richtig und wichtig, sondern auch gleichstellungspolitisch und betriebswirtschaftlich. Allerdings konkurriert die Branche des Erziehungswesens mit anderen Branchen, wenn es um Attraktivität von Ausbildungen und Berufsfeldern geht. Das meint an vorderster Stelle die Bezahlung, die – typisch für Berufe, in denen mehrheitlich Frauen tätig sind – deutlich schlechter ist als in klassischen Männerberufen. Dann geht es auch um die Möglichkeit für beruflichen Aufstieg – auch hier bieten Kitas wenige Stufen, Ziele und Perspektiven. Schon heute ist die Entgelthöhe von Erzieherinnen und Erziehern in Kitas bemessen an der Ausbildungsdauer und der Verantwortung skandalös schlecht. Man kann verantwortlich nicht dauerhaft und noch länger auf die intrinsische Motivation der Erzieherinnen und Erzieher bauen und meinen, damit die ökonomische Dimension zu kompensieren. Die entscheidende Frage für das Ziel Mehr Männer in Kitas ist, wie dieser Job für junge Männer – und im Übrigen auch für junge Frauen – attraktiver gestaltet und kommuniziert werden kann als Berufe in anderen Branchen. Das ist, ohne Übertreibung, eine Voraussetzung für die Zukunftsfähigkeit von Kitas mit der Organisation und Betreuungsqualität, die Kinder verdienen und Eltern wünschen. Es geht aber nicht nur ums Geld. Ein weiterer Arbeitsauftrag besteht darin, die Geschlechterrollenbilder von Fachkräften in Kitas von ihrer traditionellen, voremanzipatorischen Schlacke zu befreien. Wir haben in unserer Untersuchung festgestellt, dass gegenüber männlichen Erziehern in Kitas bei Eltern – und auch manchen Erzieherinnen – Vorbehalte und Misstrauen bestehen sowohl in Bezug auf die pädagogischen Kompetenzen, und noch mehr in Bezug auf möglichen sexuellen Missbrauch. Letzteres entsteht nahezu reflexhaft, wenn einem Mann in der Kita Kinder anvertraut werden. Gegenüber weiblichen Fachkräften bestehen diese Vorbehalte nahezu gar nicht. Warum eigentlich? Hier schreckt es manche an diesem Beruf interessierte junge Männer ab, wenn sie allein durch ihre Präsenz an ihrem Arbeitsplatz einem so ungeheuerlichen Verdacht ausgesetzt sind, ein Risiko darstellen und misstrauisch beäugt werden. Damit werden sie allein aufgrund ihres Geschlechts in Geiselhaft genommen und pauschalverdächtigt. Diese Rollenbilder und oft haltlosen Vorbehalte auszuräumen, ist eine zweite zentrale Aufgabe, wenn mehr Männer in Kitas gewonnen werden sollen.