20.03.2019

Interreligiöser Dialog für Respekt und Toleranz

Die evangelische Kita St. Johannis in Berlin ist eine von sieben „Modellkitas zur Integration und Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung in Berlin“. Im Haus der evangelischen Kirche gibt es eine Moschee, die alle Kids neben dem Kindergottesdienst regelmäßig besuchen.

Christine Thomaschewski-Borrman und Cihan Revend fesseln die Kinder mit Geschichten aus dem Kamishibai Erzähltheater

Es ist nicht nur der Nähe zum Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) – Anlaufstelle für Menschen aus aller Welt im Flüchtlingsherbst 2015 – zu verdanken, dass die Kita St. Johannis im Berliner Bezirk Moabit Kinder aus unterschiedlichsten Nationen betreut. Traditionell ist Moabit ein multikultureller Stadtteil, die Kita besuchten von je her viele Kinder aus Familien, die einst nach Deutschland gekommen sind. Als die Kinder mit ihren Erzieher*innen am Martinstag 2015 bei ihrem Laternenumzug am Lageso vorbeizogen, sahen sie dort die vielen Geflüchteten, die bei Wind und Wetter ausharrten, um sich registrieren zu lassen. Da traf Kita-Leiterin Christine Thomaschewski-Borrmann eine Entscheidung. Zu diesem Zeitpunkt sollte die Kita um eine Gruppe erweitert werden. Sie entschied, in Absprache mit dem Träger, einige Plätze an Kinder aus Notunterkünften zu vergeben. Sie beschränkte die Zahl bewusst auf fünf Plätze, um anderen Eltern, die ebenfalls auf einen der raren Kita-Plätze warteten, nicht vor den Kopf zu stoßen. Sie wollte eine Neiddebatte auf Kosten der Geflüchteten vermeiden.

Heute besuchen insgesamt 75 Kinder die Kita, Träger ist die evangelische Kirchengemeinde Tiergarten. Die Kinder kommen aus rund 25 verschiedenen Nationen, darunter aus Deutschland, Rumänien, der Türkei, Dänemark, Italien, Polen, Ex-Jugoslawien, Philippinen, Syrien, Afghanistan, Eritrea. Rund 60 Prozent haben einen Migrationshintergrund, die Primärsprache zu Hause ist nicht Deutsch. Zehn Prozent der Kinder mussten aus ihrer Heimat fliehen. Betreut werden sie von insgesamt 15 pädagogischen Fachkräften, dazu gehören zwei Fachkräfte für Integration, eine Sprachfachkraft und eine Fachkraft für Bildung. Im Team sind zwei Männer, drei Erzieherinnen haben Migrationshintergrund. Das Team wird ergänzt durch vier Studierende, die die berufsbegleitende Ausbildung zur Erzieher*in machen. Wie bei einem kirchlichen Träger üblich, sind die Angestellten alle Mitglieder der evangelischen oder katholischen Kirche. Die Kita St. Johannis ist eine von sieben Modellkitas in Berlin, die sich für Integration und Inklusion von Kindern mit Fluchterfahrung stark machen. Seit 2016 nimmt sie zudem am Bundesprogramm: „Sprach-Kita, weil Sprache der Schlüssel zur Welt ist“ teil.

„Mir macht es Spaß mit Familien zu arbeiten, die Vielfalt reinbringen“, sagt Christine Thomaschewski-Borrmann, räumt aber ein, gerade am Anfang sehr naiv gewesen zu sein. Sie hatte sich nicht klar gemacht, was es für sie und die anderen Erzieher*innen bedeutete, mit Kindern aus geflüchteten Familien zu arbeiten. Als das erste Kind abgeschoben wurde, waren sie fassungslos. „Das hat uns tief getroffen.“ Abschiebung, traumatisierte Kinder und Eltern, die aus einer anderen Kultur kommen – es war ein langsamer Bewusstwerdungsprozess mit vielen Gesprächen, Selbstreflexionen und dem Erwerb von interkulturellen Kompetenzen.

Sie nennt ein Beispiel: „Unser Eingewöhnungsmodell funktionierte plötzlich nicht mehr.“ Das dauert in ihrer Kita in der Regel zwischen drei Wochen bis drei Monate – mit schrittweiser Abnabelung der Eltern. „Wir konnten es den zugewanderten Eltern nicht vermitteln.“ Die gaben ihre Kinder ab und gingen. Nach einer Phase des Unverständnisses auf beiden Seiten, wurden sich die Erzieher*innen der Aufgabe bewusst, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, welche Gewohnheiten und Vorstellungen andere Kulturen haben und was das für den Kita-Alltag bedeutet. „Da haben wir gemerkt, dass wir unsere Struktur nicht 1:1 auf alle übertragen können.“ Nun können die Eltern gemeinsam mit den Erzieher*innen individuell entscheiden, wie sie den Eingewöhnungsprozess gestalten möchten. „Seitdem funktioniert es gut.“

Die Kita hat ihre Strukturen den neuen Gegebenheiten angepasst. Mittlerweile hat die Arbeit mit den Kindern auch den Blick der Erzieher*innen geschärft. „Wenn wir merken, dass ein Kind eine Verhaltensweise zeigt, die auf eine Traumatisierung schließen könnte, suchen wir das Gespräch mit den Eltern oder der Sozialarbeiterin aus der Notunterkunft.“

Kompromisse geht Thomaschewski-Borrmann jedoch nicht ein, ihrem Auftrag gerecht zu werden, als Leiterin einer kirchlichen Kita den Kindern ein christliches Leben zu vermitteln. Einmal im Monat gehen alle gemeinsam in den Kindergottesdienst. „Wir lesen auch biblische Geschichten“, sagt sie. „Wer zu uns in die Kita kommt, erklärt sich damit einverstanden.“ Denn Offenheit sei eine der Grundvoraussetzungen, die die Eltern haben müssten, wenn sie ihre Kinder in ihre Einrichtung schickten. Wer skeptisch sei, könne ebenfalls den Gottesdienst besuchen. Sie erinnert sich an die Ostergottesdienst 2017. Eine muslimische Mutter sei sehr überrascht gewesen, dass auch die Christen fasteten. Darüber kamen die Frauen ins Gespräch. „Das war sehr schön, denn wir wollen das hervorheben, was uns verbindet und nicht das, was uns trennt“, sagt Thomaschewski-Borrmann.

Sie sucht den interreligiösen Dialog. „Uns ist es wichtig, dass die Kinder auch andere Religionen kennen und respektieren lernen.“ Alle sechs Wochen besuchen sie die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die die Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Imamin Seyran Ateş 2017 gegründet hat. Seitdem finden das Freitagsgebet und muslimische Feste in einem Raum der evangelischen Kirche St. Johannis statt, nur wenige Meter entfernt von der Kita. Hier haben die Kinder schon gemeinsam das Zuckerfest gefeiert, bei den regelmäßigen Besuchen nehmen sie an der Märchenstunde teil und hören Geschichten aus aller Welt. „Die Kinder sollen früh erfahren, was es heißt, in einer pluralistischen Gesellschaft zu leben“, sagt Thomaschewski-Borrmann.

Dennoch sorgte genau diese Moschee für große Konflikte. Eltern, die es zwar akzeptierten, Kinder aus geflüchteten Familien aufzunehmen, waren gegen die Moschee auf dem Gelände der evangelischen Kirche und gegen den Besuch ihrer Kinder in der Moschee. Einige türkischstämmige Eltern hatten Angst, weil es eine offene Moschee ist, in der Frauen und Homosexuelle predigen dürfen, einige deutschstämmige Eltern befürchteten Terroranschläge. Zudem fielen Worte wie Islamisierung. Christine Thomaschewski-Borrmann denkt ungern an diese Zeit zurück. „Wir mussten sehr viel Aufklärungsarbeit leisten, hatten viele Elterngespräche mit vielen Diskussionen, wir haben die Eltern zu einem Moscheebesuch eingeladen.“ Was die Eltern jedoch letztendlich überzeugte, war die Begeisterung ihrer Kinder. Sie gehen gerne in die Moschee zur Märchenstunde, freuen sich auf das Zuckerfest, das ihre Freunde und Freundinnen feiern, die sie aufgrund von Sympathie gerne haben. Vorurteile gegen andere Religionen oder Kulturen kennen sie noch nicht.
Zwei Elternpaare jedoch meldeten ihre Kinder ab. Der Träger wollte am Konzept der für andere Religionen offenen Gemeinde festhalten, und hat seine Schäfchen ziehen lassen. „Gerade in Zeiten wie heute ist es wichtig, für Toleranz und Respekt einzutreten“, sagt die Leiterin.

Cihan Revend, seit 15 Jahren Erzieherin in der Kita St. Johannis, begleitet ihre Leiterin auf dem Weg zur Integrationskita. „Sie ist unser Schlüssel zu Kindern und Eltern“, sagt Thomaschewski-Borrmann. Cihan Revend ist selbst mit ihrer Familie im Kindesalter aus dem Irak geflohen, erst nach Schweden, dann nach Deutschland. Sie weiß, wie sich Entwurzelung und Neuanfang anfühlen. Zudem spricht die gebürtige Kurdin sieben Sprachen: „Kurdisch mit allen Dialekten,“, sagt sie und lacht. Zudem Türkisch, Farsi, Arabisch, Deutsch, Englisch und Schwedisch. Sie kann sich mit den Eltern auf Augenhöhe unterhalten, die dadurch direkt zu ihr Vertrauen gewinnen und somit auch zur Kita, in die sie ihre Kinder schicken. „Wenn es um komplexe oder emotionale Themen geht, kommt man am Besten mit der Muttersprache weiter“, weiß sie aus Erfahrung.

Gerade plant sie gemeinsam mit der Praktikantin, die aus Kambodscha kommt, mit den Kindern der Regenbogengruppe eine Reise in das asiatische Königreich. „Wir unternehmen regelmäßig einwöchige Reisen, die die Kinder in die Länder bringen, aus denen sie kommen“, sagt Thomaschewski-Borrmann. In diesem Fall ist es eine Reise in die Heimat der Praktikantin. Die Kinder lernen landestypische Tänze, hören Geschichten, basteln, Eltern besuchen die Gruppen, kommen zum Morgenkreis, singen Lieder in ihrer Landessprache, bringen Fotos mit und erzählen aus ihrem Leben in der Heimat, die sie verlassen mussten. „Das ist auch der Zusammenhang, in dem wir mal über Flucht sprechen“, sagt Thomaschewski-Borrmann. Da Liebe und Verständnis durch den Magen gehen, bringen die Eltern Essen mit, kochen mit den größeren Kindern ein landestypisches Gericht, das alle gemeinsam essen. Während ihrer Reise nach Kambodscha werden die Kinder im Rahmen des interreligiösen Austausches einen buddhistischen Tempel besuchen.

Gemeinsam mit Leiterin Thomaschewski-Borrmann besucht Cihan Revend die Vernetzungstreffen im Rahmen des Projekts „Modellkitas zur Integration und Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung in Berlin“. Hier tauschen sie sich mit den anderen Modellkitas über ihre Erfahrungen aus, nehmen an Fortbildungen teil. Sie teilen die Erfahrungen, die sie bei der Aufnahme und Eingewöhnung sowie bei der Bildung, Betreuung und Erziehung von Kindern mit Fluchthintergrund machen. Die Modellkitas sind zudem Ansprechpartner zum Thema Integration und Inklusion von Kindern aus Familien mit Fluchterfahrung frei nach dem Prinzip „Praxis berät Praxis“. Gemeinsam haben sie die Handreichung „Kultursensible Kita-Pädagogik“ erarbeitet und publiziert.

Hier erhalten sie auch Anregungen welches Spielzeug und welche Bilderbücher bei der Integration helfen. In St. Johannis gibt es nun Buntstifte in verschiedenen Hautfarben, im Familienspiel lernen die Kinder all die Familien kennen, die in unserer Gesellschaft leben – solche mit zwei Vätern und zwei Müttern, solche mit alleinerziehenden Vätern oder Müttern, solche mit inter-ethnischen Eltern, solche, in der Familienmitglieder mit einer Behinderung leben. „Hier kann jedes Mädchen und jeder Junge eine Familie finden, die Ähnlichkeiten mit der eigenen Familie hat“, sagt Thomaschewski-Borrmann.

Besonders gute Erfahrungen macht die Kita mit dem Kamishibai Erzähltheater – mit großen Bildertafeln, die beispielsweise vom Mädchen mit der Perlenkette und ihrer Fluchterfahrung erzählen, die Weihnachtsgeschichte für ein kulturell gemischtes Kinderpublikum aufbereiten oder zeigen wie Kinder den Ramadan erleben. Aber auch die Abenteuer des Hasen Karlchen sind Thema. „Anhand der Bilder können auch Kinder die Geschichten verstehen, die der deutschen Sprache noch nicht so mächtig sind“, sagt Thomaschewski-Borrmann. Die Erzieherin oder der Erzieher stecken die Bildkarten abwechselnd in das Kamishibai-Theater mit Bühnenraum und Flügeltüren – auf der Rückseite der Karten steht der Text – zunehmend mehrsprachig.

Christine Thomaschewski-Borrman leitet Herausforderung von der Frage des Standpunkts ab – auch die Integration von geflüchteten Kindern. „Empfinde ich so eine Arbeit als Mehrbelastung oder als Bereicherung?“, fragt sie. Sie hat sich für die Bereicherung entschieden. „Wir alle können davon profitieren, dass wir durch unsere Arbeit vorurteilsfreies Denken erreichen“, sagt sie. „Und die Kinder lernen schon in jungen Jahren, dass wir viele sind mit sehr vielen Gemeinsamkeiten, aber dass dennoch jeder und jede dabei einzigartig ist.“