18.09.2017

„Wir wollen ein Leitbild für eine erwachsenengerechte, berufsbegleitende Erzieher*innenausbildung erarbeiten“

Ulla Steuber im Interview über Erfahrungen im ESF-Programm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“.

Foto: privat.

Gender und Erwachsenengerechtigkeit sind Schwerpunkte im Modellprogramm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). Gefördert wird es aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds (ESF). 12 Projekte in 6 Bundesländern nehmen daran teil. Dazu gehört die Pro Inklusio Fachschule für Sozialpädagogik in Berlin.

http://www.chance-quereinstieg.de/modellprogramm/modellprogramm-quereinstieg/ | Mehr Informationen zum Modellprogramm

Die Fachschule hat die Programmschwerpunkte evaluiert und bei den beteiligten Quereinsteiger/innen, weiteren Studierenden der Fachschule sowie bei Dozent/innen und Mentor/innen nachgefragt: Spielt das Thema Gender in der Ausbildung eine Rolle? Ist die Ausbildung aus ihrer Sicht erwachsenengerecht? Wir haben Ulla Steuber in einem schriftlichen Interview zu den Ergebnissen der Evaluation befragt. Sie arbeitet seit Februar 2017 als Fachschulkoordinatorin für das Projekt. Im Anschluss an das Zweite Staatsexamen in den Fächern Philosophie und Deutsch hat sie als Dozentin an Fachschulen für Sozialpädagogik unter anderem gendersensible Pädagogik und vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung gelehrt.

Als teilnehmende Fachschule haben Sie eine Evaluation im Rahmen des ESF-Modellprogramms „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ durchgeführt. Was melden Ihnen die beteiligten Akteure zum Programmschwerpunkt „Gender“ zurück?

Kurz zu den Eckdaten unserer Bestandsaufnahme: Im März dieses Jahres haben wir den Studierenden aus vier Schulklassen à 30 Studierende (zwei der Klassen sind am Modellprogramm beteiligt, zwei weitere Klassen dienten uns als Vergleichsgröße), 30 Mentor*innen (von ESF-Studierenden) sowie allen 15 Dozent*innen unserer Fachschule jeweils 21 Fragen gestellt. Im Rahmen unserer Befragung zu den Querschnittszielen des ESF-Modellprogramms haben wir unterschiedliche Aspekte von Gendersensibilität herausgestellt. Folgende drei Ergebnisse finde ich besonders interessant:

Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen

Unsere Befragung hat ergeben, dass sich 65 Prozent aller Befragten mit ihrer eigenen Geschlechterrolle auseinandersetzen. Schaue ich mir die Ergebnisse nach Zielgruppen sortiert an, erfahre ich, dass Dozent*innen und Mentor*innen diese Frage mehrheitlich zustimmend beantwortet haben, die Studierenden sich hingegen stärker in der praktischen Arbeit mit ihrer Geschlechterrolle auseinandersetzen als im Rahmen von Unterricht.

Gendersensible Lernumgebung

Weiterhin wurde deutlich, dass insgesamt 48 Prozent aller Befragten darüber nachdenken, wie eine Lernumgebung gendersensibel gestaltet und Materialien gendersensibel ausgewählt werden können. Dozent*innen und Studierende haben diese Frage für den schulische Kontext mehrheitlich ablehnend beantwortet, Mentor*innen und Studierende setzen sich wiederum stärker in der praktischen Arbeit mit der Gestaltung einer gendersensiblen Lernumgebung sowie der gendersensiblen Auswahl von Material auseinander.

Auseinandersetzung mit Heteronormativität

Schließlich erkennen 50 Prozent aller Befragten Heteronormativität als gesellschaftliches Problem an und gehen mit Kolleg*innen darüber in den Austausch, wie dieser entgegengewirkt werden kann. Schauen wir die einzelnen Zielgruppen an, wird deutlich, dass Dozent*innen und Mentor*innen diese Frage mehrheitlich zustimmend beantwortet haben, Studierende sich hingegen eher in der praktischen Arbeit mit Heteronormativität als gesellschaftlichem Problem auseinandersetzen als im schulischen Kontext.

Welche Schlüsse ziehen Sie aus den Rückmeldungen? Welche Impulse nehmen Sie aus der Befragung mit?

Meinen Kolleg*innen und mir ist selbstverständlich ein besonderes Anliegen, der Reflexion über die eigene Geschlechterrolle im Rahmen von Unterricht mehr Raum zur Verfügung zu stellen, da diese die Basis für eine weitere gendersensible pädagogische Arbeit darstellt. Die bereits bestehende Auseinandersetzung gilt es zu verstetigen, jedoch möchten wir die Genderbrille mit Hilfe von Workshop-Angeboten auf allen Seiten noch zusätzlich schärfen.

Im Hinblick auf die Frage zur Gestaltung einer gendersensiblen Lernumgebung ist der Anteil der Studierenden in der Praxis, für die dieses Thema eher keine oder gar keine Rolle spielt, mit 41 Prozent sehr hoch. Die Bedeutung einer gendersensiblen Lernumgebung sollte unbedingt im Unterricht stärker berücksichtigt werden. Wir haben zusätzlich dazu angeregt, dass die Pro Inklusio Fachschule auch die eigene Lernumgebung diesbezüglich unter die Lupe nimmt.

Nun komme ich noch zur Frage zu Heteronormativität: Im Sinne des Anspruchs, in den Einrichtungen alle Familienkulturen repräsentieren zu wollen, sollte Heteronormativität unbedingt im Unterricht Thema sein. Insbesondere der Anteil der Studierenden, für die Heteronormativität eher keine oder gar keine Rolle spielt, ist recht hoch. Aus diesem Grund bieten wir in den Klassen des Modellprojekts sowie auch für Mentor*innen ab Oktober 2017 zum Thema „Geschlechtersensible Kinderbücher“ sowie zum Thema „Vielfalt familiären Lebens“ Workshops an.

Wie sind die Rückmeldungen der Akteure im Programm zum Schwerpunktthema „Erwachsenengerechtigkeit“ der Ausbildung und welche Rückschlüsse ziehen Sie daraus?

Im Hinblick auf Erwachsenengerechtigkeit haben wir abgefragt, inwiefern die Berufsbiografie der Quereinsteiger*innen, ihre familiären Verpflichtungen sowie ihre besondere Rolle als Quereinsteigende wahrgenommen und berücksichtigt werden.

Berücksichtigung von Berufsbiografie und familiären Verpflichtungen

Interessant ist für uns, dass sich die Aussagen von Mentor*innen und Studierenden in der Praxis sehr stark unterscheiden. Ebenso eklatant gehen die Aussagen von Dozent*innen und Studierenden in der Fachschule auseinander. Dozent*innen und Mentor*innen sind der Ansicht, die Berufsbiografie der Quereinsteiger*innen, familiäre Verpflichtungen und die besondere Rolle von Quereinsteigenden wahrzunehmen und angemessen zu berücksichtigen. Die Studierenden nehmen dies jedoch nicht so wahr. Sie fühlen sich in ihrer äußerst herausfordernden Ausbildungssituation nicht gesehen.

Runder Tisch und Leitbild

Hier gilt es, Erwartungen stärker auszutauschen, Raum für Dialog zu schaffen. Wir planen einen runden Tisch mit Delegierten aller beteiligten Parteien zum Thema Erwachsenengerechtigkeit ins Leben zu rufen. Unsere Idee ist, als Ergebnis eines kontinuierlichen Dialogs ein Leitbild zum Verständnis von Erwachsenengerechtigkeit in der berufsbegleitenden Erzieher*innen-Ausbildung zu entwerfen, der den mit uns kooperierenden Trägern und uns als Schule als Grundlage für eine gute Zusammenarbeit dient.

In Berlin können Fachschüler/innen vom ersten Ausbildungsjahr an auf den Personalschlüssel der Kitas angerechnet werden, was die Finanzierung der Ausbildung ermöglicht. Fachschüler/innen des Pestalozzi-Fröbel-Hauses haben sich vor den Sommerferien während einer Podiumsdiskussion sehr kritisch dazu geäußert. Was melden Ihnen die Quereinsteiger/innen im Programm zur Anrechnung auf den Personalschlüssel und deren Auswirkung zurück?

Ja, diese gelungene Podiumsdiskussion war sehr anregend und hat wichtige Themen zur Sprache gebracht. Auch uns melden Quereinsteiger*innen zurück, dass die Anrechnung auf den Personalschlüssel mitunter dazu führt, dass Studierende, die vollkommen fachfremd sind, bereits zu Beginn ihrer Ausbildung die volle Verantwortung für eine Gruppe von Kindern tragen müssen. Dies führt zu massiven Überforderungssituationen und mitunter zu starken psychischen Belastungen. Fraglos besteht hier dringender Handlungsbedarf.

Wie wollen Sie beide Programmschwerpunkte „Erwachsenengerechtigkeit“ und „Gender“ dauerhaft an Ihrer Fachschule etablieren?

In der Fachschule geht es im Hinblick auf Gendersensibilität im Herbst darum, das aktuell stark wachsende Dozent*innen-Team nochmals im Rahmen einer Fortbildungsveranstaltung durch Queerformat zu sensibilisieren. (Anmerkung der Redaktion: Queerformat ist ein Trägerverbund mit Sitz in Berlin, der Fortbildungen, Beratungen und Materialien zu den Themen geschlechtliche und sexuelle Vielfalt anbietet.)  Anschließend werden wir als ESF-Team alle Lernfeldteams bei der Ausarbeitung des schulinternen Curriculums begleiten dürfen. Unser Anliegen ist, das Thema Gender in allen Lernfeldern zu identifizieren und zu stärken.

Gendersensibles Arbeitsmaterial und Workshops

Der Ausbildungsplan der Studierenden, welcher in den vergangenen Wochen überarbeitet wurde, umfasst zahlreiche Arbeitsmaterialien (Reflexionsfragen, Kompetenzrad, Qualitätsstrahl), die die Reflexion der eigenen Geschlechterrolle (das eigene Selbstverständnis, bestehende Geschlechterstereotype, geschlechtersensible Sprache, die Art und Weise der Interaktion mit Kindern, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen sowie die Interaktion im Team) und weitere Aspekte gendersensibler Pädagogik initiieren.

Weiterhin werden wir als ESF-Team zukünftig punktuell Workshops anbieten, die spezifische Schwerpunkte geschlechtersensibler Pädagogik wie z. B. geschlechtersensible Kinderbücher oder den Umgang mit der Vielfalt familiären Lebens zusätzlich aufgreifen und vertiefen. Diese werden auch den Mentor*innen angeboten.

Themenblöcke, Transparenz und Feedbackkultur unter Studierenden

In punkto Erwachsenengerechtigkeit war in den letzten Monaten vornehmlich die Belastungssituation der Studierenden unser Thema. Insbesondere die geballten Anforderungen am Semesterende (Abgabetermine von Hausarbeiten, Klausuren, Lernerfolgskontrollen, Referate, Projektpräsentationen etc.) wurden von den Studierenden als große Belastung herausgestellt. Nun erprobt die Fachschule Unterricht in Themenblöcken, sodass sich die jeweiligen Abgabetermine über das Semester gut verteilen lassen. Zudem wurden neue Bewertungsraster entwickelt, um eine größere Transparenz für die Studierenden zu schaffen und die Feedbackkultur auch unter den Studierenden zu stärken. Hier befinden wir uns noch mit den Studierenden, Dozent*innen und der Schulleitung im Austausch über mögliche Verfahren.

Nächste Schritte

Unser nächster Schritt soll nun der bereits oben genannte Runde Tisch zum Thema Erwachsenengerechtigkeit sein, um ein Leitbild  für eine erwachsenengerechte berufsbegleitende Erzieher*innen-Ausbildung zu generieren. Mit Sicherheit werden sich aus dem Runden Tisch neue Fragen und Herausforderungen für uns ergeben.

Vielen Dank für das Interview!