06.05.2019

Familienformen wandeln sich

Der Anteil an nicht-traditionellen Paarbeziehungen bzw. heterosexuellen Beziehungen zwischen einer Frau und einem Mann mit Kindern nimmt ständig zu. Diese Entwicklung spiegelt sich auch in Kindertageseinrichtungen wieder.

Melike Çınar, Foto: privat.

Melike Çınar ist Diplom-Politikwissenschaftlerin und Referentin für Eltern- und Familienbildung beim Paritätischen Bildungswerk Bundesverband. Sie ist Sprecherin des Konsortiums Elternchance und Mitglied des Bundesforums Familie. Ihre Schwerpunkte in der Zusammenarbeit mit und Weiterbildung von Fachkräften sind Demokratiebildung, Antidiskriminierung und inklusive Bildung.

Gibt es aktuelle Daten über die Anzahl unterschiedlicher Familienformen in Deutschland?

Ein klares Jein. Zählbar sind ja nur solche, die sich statistisch erfassen lassen, also vor allen Dingen Eheschließungen / -scheidungen, eingetragene Lebenspartnerschaften, Geburten, Sterbefälle, Pflegschaften und Adoptionen. Was die staatlichen Institutionen nicht im Blick haben sind all die Lebensentwürfe, die sich nicht zählen lassen: Co-Elternschaften, polyamouröse Familien, all die Menschen, die ihre familiären Gemeinschaften nicht irgendwo registrieren wollen oder können. Außerdem sind sie, selbst wenn sie zählbar sein, untereinander kaum vergleichbar. Zum Beispiel Alleinerziehenden- oder Einelternfamilien: Die statistische Angabe sagt nichts über mögliche Unterstützung im Freundeskreis aus, nichts über eventuell bestehende Liebesbeziehungen zu anderen Menschen usw.

Wie gehen Träger von Kindertageseinrichtungen bzw. Kindertageseinrichtungen Ihrer Erfahrung nach mit der zunehmenden Vielfalt von Familienformen um?

Nicht die Vielfalt der Familienformen nimmt zu, sondern das Bewusstsein dafür. Die heute normative Vorstellung der Kleinkernfamilie ist geschichtlich die jüngste, sie hält sich aber sehr hartnäckig.

Mein Eindruck ist, dass es zwar eine Offenheit gibt, das als Familie zu akzeptieren, was das Kind als Familie erlebt, zugleich aber große Unsicherheiten bestehen. Oftmals stellen sich Fachkräfte zum Beispiel juristische Fragen: Wen darf/muss ich über Entwicklungen des Kindes informieren? Wer unterschreibt mir Einwilligungserklärungen? Wer holt das Kind im Krankheitsfall ab? Hier ist wesentlich, nicht so sehr nach dem Besonderen zu suchen sondern klar zu trennen: Geht es wirklich um die juristische Frage der Sorgerechtsinhabenden? Dann ist das, wie bei jedem Kind, zweifelsfrei zu klären. Alle Bereiche aber, die nicht juristisch sind, müssen der Realität der Kinder angepasst werden, wenn wir die Kinder nicht in ihrem Selbstwertgefühl und ihrer Würde schädigen wollen.

Meist ist die Lösung nicht so schwierig. Mein Tipp: Überprüfen Sie zum Beispiel Ihre Formulare. Ersetzen Sie „Vater“ und „Mutter“ durch „Personensorgeberechtigte“. Ersetzen Sie, wann immer es geht, auch mündlich, „Eltern“ durch „Familie“. Wir haben viele Kinder in den Einrichtungen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht bei ihren Eltern leben und immer wieder verletzt werden, ohne dass wir das so meinen. Eine Familie haben sie aber alle. Und alle Kinder wollen ihre Familie schützen und lieben. Selbst wenn wir also eventuell eine andere Meinung haben als die Familien der Kinder oder ihre Lebensweise unserer eigenen sehr fremd scheint: Wir müssen allen Familien mit Respekt und Wertschätzung begegnen. Sonst stürzen wir die Kinder in erhebliche Konflikte und berauben sie vieler Entwicklungschancen.

Ein weiterer Tipp ist, Familienformen ganz offen mit den Kindern zu thematisieren, möglichst wenig unausgesprochen zu lassen. Denn Kinder lernen durch das, worüber wir schweigen, ebenso viel wie durch das, was wir sagen. Was wir mit Schweigen belegen, ist nicht normal, gehört nicht dazu. Überprüfen Sie Ihre Bücher: Kommen vielfältige Familien ganz normal vor?

Und positionieren Sie sich deutlich bei abwertenden Kommentaren. Stellen Sie sich an die Seite der Kinder, die abgewertet werden und machen Sie deutlich: „Das sehen wir in dieser Kita anders und hier darf keine Familie für Ihre Lebensweise angegriffen werden.“

Sind Familien mit gleichgeschlechtlichen bzw. trans*- und intergeschlechtlichen Partner*innen in Kindertageseinrichtungen Diskriminierungen ausgesetzt? Wenn ja, was können Träger bzw. Kindertageseinrichtungen tun, um Diskriminierungen abzubauen?

Ich denke, das hängt davon ab, ob sie als solche erkannt werden. Wenn, dann gehe davon aus, dass sie zumindest erheblich gefährdet sind, Diskriminierung ausgesetzt zu sein.

Lassen Sie uns die genannten Personengruppen mal voneinander trennen. Gleichgeschlechtliche Paare werden natürlich als solche erkannt, wenn sie ein gemeinsames Kind in der Kita anmelden. Falls beide personensorgeberechtigt sind. Natürlich existiert die Kita nicht in einem Vakuum, sondern unterliegt den gleichen Strukturen wie der Rest der Gesellschaft. Da es in Deutschland ein feststellbares Level an Homophobie gibt, kann auch die Kita schwerlich vollkommen frei davon sein. Die Kita und der Träger können (und müssen!) Diskriminierung aktiv entgegen wirken und eine Normalität der Vielfalt aktiv gestalten. Im Grunde entlang der Dinge, die ich in der Antwort der Frage 2 bereits skizziert habe. Grundsätzlich gilt: Familie ist Schicksal und kein Kind darf aufgrund seiner Familie eine Benachteiligung erfahren.

Für trans*Menschen gilt eben erstmal die Frage, werden sie als solche erkannt bzw. geben Sie sich zu erkennen? Zudem können natürlich transidente Menschen auch in homosexuellen Beziehungen leben und eventuell gar doppelte Stigmatisierung erfahren. Auch zu diesem Thema gibt es angemessene und schöne Bilderbücher und die Fachkräfte sollten sich stets fragen, auf welche Weise sie am besten ein Bild der Normalität vermitteln können. Für Kinder im Kitaalter mag es ausreichen, bei Körperbildern zum Beispiel grundsätzlich zu sagen „Die meisten Menschen haben zwei Augen. Die meisten Frauen haben eine Vagina.“ und immer auch klarzumachen, es kann auch anders sein. Das akzeptieren nach meiner Erfahrung Kinder sehr gut. Und ein dreijähriger Junge, der gern Röcke trägt, ist einfach in seiner Persönlichkeitsentwicklung zu unterstützen – darauf, wie dieses Kind später leben möchte, lässt das Tragen von Röcken keinen Rückschluss zu.

Bei intergeschlechtlichen Menschen ist es oftmals vor allem eine Wahrnehmungs- und Kenntnisfrage. Es lohnt sich, sich mal mit den von aktivistischer Seite zur Verfügung gestellten Materialien zu beschäftigen. Viele Menschen wissen nicht einmal, dass es viele Variationen von Intergeschlechtlichkeit gibt und es in der Regel keine medizinische Notwendigkeit für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit gibt. Diese sind bei nicht zustimmungsfähigen Babys und Kindern somit unethisch. Auch hier können und müssen Träger und Kitas Vorbehalten und Tabus aktiv begegnen.

Für alle Fälle: Holen Sie sich Rat und Unterstützung bei Unsicherheiten! Die Suizidrate bei Jugendlichen aus dem LGBTIQ-Spektrum ist vier Mal so hoch wie bei anderen Jugendlichen. Das darf uns zu denken geben. In der Zusammenarbeit mit Familien ist es besonders wichtig, sie zu unterstützen und zu einem positiven und stärkenden Umgang mit ihrem Kind zu ermutigen.

Benötigen Kindertageseinrichtungen spezifische Konzepte zum Umgang mit familiärer und sexueller Vielfalt?

Ja, denn Vielfalt gestaltet sich nicht von selbst. Eine Bildung und Erziehung im Sinne einer demokratischen Zukunft verlangt von uns, dass wir Kindern die Vielfalt des Lebens wertschätzend nahebringen und ihnen Wissen und Respekt mit auf den Weg geben.

DANKE für die Beantwortung der Fragen!