03.12.2015

Dr. Leah Carola Czollek

„Es geht darum, sichere Gewissheiten immer wieder in Frage zu stellen. Das bedeutet in Bezug auf Gender und Queer die komplexen Prozesse der gesellschaftlichen Bildung von Genderrollen und deren gesellschaftlichen Funktionen zu erkennen.“

Foto: privat.

Dr. Leah Carola Czollek, BA, ist Dozentin und stellvertretende Frauenbeauftragte an der Alice-Salomon-Hochschule, Berlin (ASH), Mediatorin, freiberufliche Trainerin, Ausbilderin für Social Justice und Diversity und Gründerin von czeollek consult. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender, Gender Mainstreaming, Interkulturelle Soziale Arbeit, Social Justice, Diversity, Dialog, Mediation.

Frau Czollek, Sie haben gemeinsam mit Gudrun Perko und Heike Weinbach das „Lehrburch Gender und Queer. Grundlagen, Methoden und Praxisfelder“ veröffentlicht. In zwölf Lehreinheiten vermitteln Sie Theorie und Praxis zu Gender und Queer. Die Lehreinheiten erstrecken sich von theoretischen und rechtlichen Grundlagen über Methoden bis hin zu Praxiskompetenzen und Umsetzungsschritte einer gender- und queergerechten Sozialen Arbeit. Jede Lehreinheit enthält Vorschläge für Übungen. Eine vergleichbare Publikation für die frühkindliche Pädagogik ist uns nicht bekannt.
Welches Verständnis von Gender und Queer liegt Ihren Überlegungen einer gendergerechten Sozialen Arbeit zugrunde?

Um die Frage zu beantworten möchte ich kurz auf drei Aspekte eingehen, die meinem Verständnis von Gender und Queer zugrunde liegen.

  1. Bei Gender ging es zunächst um die Frage, ob es eine biologische Komponente, d.h. etwas Essentialistisches gibt, dass Menschen determiniert, Männer und Frauen zu werden. Es wurde diskutiert, ob Gender ein gesellschaftliches Konstrukt ist, was bedeutet, dass es verschiedene soziale Rollen in der Gesellschaft gibt, in die Menschen sozialisiert werden. Diese Rollen werden je der weiblichen oder männlichen Sphäre zugewiesen.

  2. Mit der Diskussion um Queer wurde die Vorstellung eindeutiger Geschlechtervorstellungen infrage gestellt. Es ging um die Kritik an der Vorstellung, dass es nur zwei Geschlechter gäbe, und diese heteronormative Praxis wurde um mehrere Geschlechter erweitert wie Transgender, Intersexen, Lesben, Schwule, Bisexuelle.

  3. Diesen Auffassungen liegen theoretische Überlegungen zu Grunde. Ausgangspunkt waren die Debatten und Kämpfe der 1960er, 1970er, 1980er und 1990er Jahre im Kontext der feministischen Bewegung sowie der Bürger_innenrechtsbewegung in den USA. Mitte der 1980er Jahre etablierten sich Gender-Studies im deutschsprachigen Raum als eigene wissenschaftliche Disziplin. In den 1990er Jahren wurden Queer-Theory aus den USA im deutschsprachigen Raum übernommen. In den 1990er Jahren waren es vor allem die Theorien von Judith Butler, die hier Eingang in die Debatten gefunden haben.

Die Vorstellung von Gender als soziale Konstruktion in Bezug auf Rollen und Funktionen  und die Einbeziehung von Erkenntnissen aus der Queer Theorie sind in die Ausbildung in der Sozialen Arbeit und in die Praxis der Sozialen Arbeit in den letzten Jahren als Wissen und Erkenntniszugang und auch als Qualitätsstandards eingegangen.
Dies sind die Ausgangspunkte für das Verständnis einer gendergerechten und queergerechten Sozialen Arbeit: in der Theorie, aber auch in der Umsetzung in verschiedenen Praxisfeldern.

Wie lassen sich Ihre Überlegungen auf die Ausbildung von Erzieher/innen und Kindheitspädagog/innen bzw. auf den Bereich der Kindertagesstätten übertragen?

Der theoretische Rahmen ist abgesteckt insofern Gender- und Queertheorien sehr weit ausgebildet wurden. Diese beziehen sich ja konkret auf die Entwicklung von Strukturen einer Gesellschaft und auf die Sozialisation von Menschen, die in ihr leben. Da kann gesagt werden, dass diese Theorien auch in die Ausbildung von Erzieher/innen und Kindheitspädagog/innen einfließen können. Es geht ja hierbei um eine akademisierte Ausbildung, die ja immer auch von gegenwärtigen theoretischen Erkenntnissen gespeist ist. Insofern orientiert sich die Ausbildung von KindheitspädagogInnen und ErzieherInnen an einem gesetzlichen Referenzrahmen. Dazu gehören die Bildungspläne, in der sozialen Arbeit das SGB 8, das Grundgesetz, die Anforderungen von Gender Mainstreaming und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Auch die UN Kinderrechte und die Behindertenrechtskonvention würde ich dazu zählen. Darüber hinaus gibt es empirische Studien über die Situation von Kindern in der Bundesrepublik, die sich mit Folgen von Armut, von Diskriminierung und heteronormativer Geschlechterrollen und ihren Folgen beschäftigen. Auf dieser theoretischen und gesetzlichen Grundlage haben wir für die Soziale Arbeit Konzepte und Methoden entwickelt, die in der Praxis umgesetzt werden. Hier gibt es wie auch in der Frühpädagogik zwei Handlungsebenen: das ist einmal die individuelle Ebene der jeweiligen ErzieherInnen und PädagogInnen und zum anderen die strukturelle Ebene. Insofern kann die Systematik, die wir verwenden, übernommen werden. Die Praxis der Kindertagesstätten ist mit pädagogischem Material sehr gut und in großer Vielfalt ausgestattet. Diese Materialien könnten in Bezug auf Schwerpunkte wie Gender und Intersektionalität überarbeitet werden. Es kann untersucht werden, an welche Lebenswelten der Kinder Kinderbücher und Kinderlieder anknüpfen. Was spiegeln Materialien wieder wie Figuren von Lego oder Playmobil, welche Lebensentwürfe werden eröffnet und welche nicht. Doch auch hier in diesem Bereich gibt es ja schon Untersuchungen und Veröffentlichungen. Und gemeinsam mit PraktikerInnen und TheoretikerInnen kann hier an bestehendes angeknüpft und weiter entwickelt werden. Wichtig ist dabei immer die Frage nach dem Ziel, das ich verfolge, und dieses nicht aus dem Auge zu verlieren.

Welches sind aus Ihrer Sicht die zentralen Gender- und Queerkompetenzen, die in der Ausbildung von Erzieher/innen, die in Kitas arbeiten, vermittelt werden sollten?

Wenn von Gender- oder Queerkompetenzen die Rede ist, geht es um die Reflexion der Auswirkungen  von Denken und von Stereotypisierungen auf das eigene Handeln und dessen Folgen. Es geht darum, sichere Gewissheiten immer wieder in Frage zu stellen. Das bedeutet in Bezug auf Gender und Queer die komplexen Prozesse der gesellschaftlichen Bildung von Genderrollen und deren gesellschaftlichen Funktionen zu erkennen. Diese wirklich zu verstehen und die Verbindung von Theorie und Praxis und umgekehrt anzuerkennen ist ein wichtiger Schritt. Darüber hinaus gehört es zur Professionalisierung, nicht sich selbst in der Reflexion in das Zentrum zu stellen, sondern das eigene Handeln und die fachlichen Kompetenzen immer wieder hin auf die Ziele meiner Arbeit zu überprüfen. Dazu gehört auch, Gender und Queer nicht als starre, einzige Kategorie zu sehen, sondern Gender in einem Geflecht von Prozessen der Integration und Desintegration, von Einschluss und Ausschluss wahrzunehmen. Andere Kategorien der Verschiedenheit wie soziale Herkunft, kulturelle Eingebundenheit, Behinderung u.a. spielen eine große Rolle in Bezug auf Gender. Auch die Wahrnehmung diese Intersektionalität mit der Anerkennung von Diskriminierungserfahrungen in z. B. Bezug auf Rassismus, Sexismus, Behindertenfeindlichkeit, Antiromaismus gehören zu den Genderkompetenzen.
Allgemein würde ich sagen, dass es neben den eben beschriebenen Kompetenzen auch um professionelle ethische Kompetenzen geht, um eine Problemlage aus ethisch professioneller Sicht analysieren zu können. Zum anderen würde ich dazu auch Konfliktkompetenzen zählen, also das professionelle Umgehen mit Konfliktsituationen.

In Ihrem Buch widmen Sie eine Lehreinheit der Flüchtlingsarbeit, ein hochaktuelles Thema, mit dem auch Kitas und Erzieher/innen konfrontiert sind. Sie thematisieren genderspezifische Fluchtursachen. Welche sind das? Welche Auswirkungen haben sie auf den Kita-Alltag und was bedeutet das für die dort arbeitenden Fachkräfte? Wie könnte eine Ausbildung darauf vorbereiten?

Die Herausforderungen, die sich in der Arbeit mit geflüchteten Menschen in der sozialen Arbeit stellen, sind nicht auf die Arbeit mit Kindern zu übertragen. Wenn wir uns die gegenwärtige globale gesellschaftspolitische Situation ansehen, dann werden künftig und auch schon gegenwärtig Kinder in Kitas aufgenommen werden, die selbst direkt Fluchterfahrungen gemacht haben. Kinder, die einen langen Weg hinter sich gebracht haben, bis sie in Deutschland angekommen sind. Und die Bedingungen der ersten Zeit, die sich über Tage, Wochen und Monate ziehen kann, sind nicht geprägt durch für Kinder angemessene Bedingungen. Diese Kinder haben etwas erlebt und gesehen, was sich unserer Vorstellungskraft entzieht. Hier wird es ganz aktuell darum gehen, dass in der Ausbildung ein Schwerpunkt auf Folgen kindlicher Traumatisierung und Diversity gelegt wird, insofern Diversity, Verschiedenheit, der Normalfall ist und nicht die Ausnahme. In der Ausbildung könnte vermittelt werden, dass es keine einheitlichen Konzepte gibt. Weder für den Umgang mit Trauma noch für den Umgang mit Diversity. Kinder reagieren ganz unterschiedlich auf Erlebtes und kommen nie aus einer einheitlichen Kultur. Hier schließt sich der Kreis von der ersten Frage bis hin zum Handlungsfeld mit geflüchteten Kindern. Professionalisierung bedeutet ja, mein Handeln an einem Referenzrahmen auszurichten, der nie die Fachkraft selbst sein kann, sondern eingebunden ist in gegenwärtige gesellschaftspolitische Anforderungen.
Zu allem hier gesagten möchte ich noch hinzufügen, dass es zur Professionalisierung auch gehört, zu lernen, wie ich als KindheitspädagoIn oder als ErzieherIn für mich selbst sorgen kann. Ich meine das nicht im banalen Sinn, sondern zu lernen, nicht auszubrennen in der Arbeit mit Kindern, die Schreckliches erlebt haben und zu berücksichtigen, dass es eine Form der sekundären Traumatisierung gibt. Das bedeutet die Übernahme des Traumas der Menschen, mit denen ich arbeite.

Vielen Dank für das Interview!