21.06.2016

Berlin - Procedo

„Durch die Schulkoordination im Bundesmodellprogramm gelingt es, die einzelnen Dozent/innen besser miteinander zu vernetzen und die Übungen zur vorurteilsbewussten Bildung sinnvoll aufeinander bezogen ins Curriculum einzuarbeiten.“ Interview mit Sonja Wolfrum und Salome Soldanski.

Foto: Tim Deussen. Copyright: Koordinationsstelle 'Chance Quereinstieg/Männer in Kitas'.

Sonja Wolfrum arbeitet als Koordinatorin für die Praxis im Bundesmodellprogramm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ bei der Procedo-Berlin GmbH – Pro Inklusio Fachschule für Sozialpädagogik. Frau Wolfrum ist Diplom-Pädagogin.

Salome Soldanski arbeitet als Schulleiterin  und Fachbereichsleiterin Fort- und Weiterbildung bei der Procedo-Berlin GmbH – Pro Inklusio Fachschule für Sozialpädagogik. Im Bundesmodellprogramm „Quereinstieg – Männer und Frauen in Kitas“ hat sie die Stelle der Koordinatorin für die Schule übernommen. Frau Soldanski ist Erziehungswissenschaftlerin und Studienrätin.

Frau Soldanski, wie kann eine Willkommenskultur für Quereinsteiger/innen an Fachschulen aussehen?

Für die meisten Quereinsteiger/innen bedeutet die Entscheidung, die berufsbegleitende Ausbildung aufzunehmen einen großen Schritt. Dieser ist häufig damit verbunden, seinen gewohnten Alltag und eine langjährige Berufserfahrung in einem anderen Arbeitsfeld aufzugeben und in eine zwar bekannte, aber lang zurückliegende Situation – die der Schulzeit – zurückzukehren.

Mentor/innen begleiten die Auszubildenden

Nicht nur im frühpädagogischen Kontext spielen Transitionen eine wichtige Rolle und werden mit verschiedenen Gefühlen in Verbindung gebracht. Im Erwachsenenalter können Transitionen ebenso wie in der Frühpädagogik mit Sorgen und mit Unsicherheiten verbunden werden und daher ist der Anfang der Ausbildungszeit eine entscheidende Phase, die die Grundlagen für die nächsten Jahre bildet. Das Schaffen eines Gemeinschaftsgefühls und einer Orientierung sind hier die ersten Schritte. Hilfreich kann dazu ein persönlicher Ansprechpartner sein: ein Klassen begleitender Dozent, Tutor oder Pate. Gerade zu Beginn der Ausbildung entstehen zahlreiche Fragen und Unsicherheiten, die durch regelmäßige Gespräche geklärt und überwunden werden können. Eine zeitnahe Einladung der zuständigen Mentor/innen erfüllt das gleiche Anliegen: eine Orientierung zu schaffen und den Lernort Praxis für eine gemeinsame Ausbildung der Studierenden mit einzubeziehen. Für zahlreiche Mentor/innen ist es das erste Mal, dass sie eine Auszubildende oder einen Auszubildenden an unserer Fachschule begleiten, und um das gut zu tun und alle schulrelevanten Fragen beantworten zu können, ist eine Bekanntmachung der Schulanforderungen sinnvoll.

Frau Wolfrum, um Kita und Quereinsteigende zusammenzubringen haben Sie als Koordinatorin für die Praxis im Vorfeld intensive Vorgespräche mit interessierten Kitas und Quereinsteiger/innen geführt. Für dieses Verfahren haben Sie sehr positive Rückmeldungen aus der Praxis erhalten. Wie müssen wir uns das konkret vorstellen und worauf lag Ihr besonderes Augenmerk im Prozess der „Vermittlung“?

Im Rahmen des ESF-Bundesmodellprogramms sahen wir die Möglichkeit, die Kooperation mit der Praxis zu vertiefen. In Zusammenarbeit mit einem Kooperationsträger wurde ein Bewerbungsverfahren ausgearbeitet, das neben der Prüfung der formalen Zugangsvoraussetzungen und der Vorauswahl der Bewerber/innen auch die Besuche zu den potenziellen Einrichtungen implizierte. Hier konnten die Einrichtungen durch Vorgespräche mit der Kitaleitung bei ihrem jeweiligen Stand abgeholt und so in Erfahrung gebracht werden, wie die Teamzusammensetzung ist, ob männliche Fachkräfte angestellt sind, wie die Erfahrung mit Quereinsteiger/innen ist und welche Erwartungen hinsichtlich der neuen Mitarbeiter/in bestehen. Im Umkehrschluss wurde im Rahmen von Auswahlgesprächen auf Seiten der Bewerber/innen erörtert, welche Erfahrungen vorhanden sind, ob eher größere oder kleinere Teams angestrebt werden etc.

Bewerber/innen und Kitas müssen zusammenpassen

Von diesen Gesprächen ausgehend, wurde im nächsten Schritt eine Zuteilung umgesetzt, die neben der Beachtung der Erwartungen beider Seiten auch das Thema des Fahrtweges berücksichtigte. Unter Erwachsenengerechtigkeit zählt auch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie und dies könnte bei zu langen Anfahrtswegen zur Arbeitsstätte mitunter schwierig werden. Das wichtigste Kriterium im Bewerbungsverfahren war schließlich ein einwöchiges Praktikum. Beide Parteien konnten hier herausfinden, ob ein zukünftiges Arbeitsverhältnis angestrebt wird. Bedauerlicherweise konnten nicht alle Bewerber/innen eine Ausbildungsstelle finden, da in der Regel zwischen zwei Praktikant/innen entschieden wurde.

Wie sieht konkret die Umsetzung des Konzepts der vorurteilsbewussten Erziehung und Bildung in der Ausbildung  aus? Wie beziehen Sie es auf die Programmziele ‚Gendersensibilität‘ und ‚Erwachsenengerechtigkeit‘?

Da sich die vorurteilsbewusste Bildung direkt gegen Diskriminierung und Ausgrenzung wendet, ist das Thema Gendersensibilität immer ein Teil aller Übungen. Durch die Aufgaben der Schulkoordination im ESF-Projekt gelingt es, die einzelnen Dozenten besser miteinander zu verbinden und die Übungen zur vorurteilsbewussten Bildung sinnvoll aufeinander bezogen ins Curriculum einzuarbeiten. Wichtig ist es natürlich auch immer wieder, im Dozententeam eigenen Rollenbildern nachzuspüren und sich in Genderaspekten zu hinterfragen. Bisher hat der hohe Männeranteil in unserer ESF-Klasse nicht zu einer Veränderung des Unterrichts einzelner Dozentinnen und Dozenten geführt. Das hat eventuell damit zu tun, dass wir nicht an eine männliche Herangehensweise pädagogischer Themen glauben. Wir stellen insgesamt fest, dass sich in der Klasse die Geschlechter in gleicher Weise am Unterricht beteiligen und ihre eigenen Erfahrungen einbringen.

Sich unabhängig vom Alter auf Augenhöhe begegnen

Darüber hinaus besteht durch Praxisaufgaben, die Praxisbesuche und -begleitung die Möglichkeit, den Ansatz der vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung praktisch umzusetzen und zu begleiten. Ebenso ist der Ansatz Bestandteil in der Schulung der Mentor/innen. Im Rahmen des Programms besteht hier wiederholt die Möglichkeit, den Ansatz umfangreicher einzuarbeiten und auch auf Seiten der Mentor/innen an den Themen der Ein- und Ausgrenzung, Diskriminierung, Macht/Ohnmacht im Anleitungsgefüge und an eigenen Ressourcen zu arbeiten und sich damit auseinanderzusetzen. Festgelegte Normen in unserer Mehrheitsgesellschaft kritisch zu hinterfragen, wovon das Geschlechterthema ein ganz „klassisches“ ist, kommen genauso zum Tragen wie die Reflexion aller Beteiligten rund um den Themenschwerpunkt der Erwachsenengerechtigkeit. Das „mehr“ an Lebenserfahrung führt häufig zu Unsicherheiten, besonders im Falle einer jüngeren Praxisanleitung. Wie kann hier ein Begegnen auf Augenhöhe möglich sein, unabhängig vom Alter? Auch hier finden wir Denkanstöße, wenn wir uns mit den angesprochenen Themen der Ausgrenzung, Diskriminierung und Einsatz von Macht beschäftigen.

Die Einführung des  neuen Rahmenlehrplans in Berlin steht kurz bevor. Wie können gendersensible und erwachsenengerechte Elemente in der Ausbildung in Lernsituationen umgesetzt werden?

In den neuen Lernsituationen, die sich ja viel konkreter auf alltagspraktische Themen beziehen werden, versuchen wir, die Erfahrungen aller Studierenden miteinfließen zu lassen. Auch in der Vergangenheit war unsere Klassenzusammensetzung nicht rein weiblich, sodass es einen Erfahrungsschatz mit Alltagserfahrungen von männlichen Fachkräften gibt. Hier möchte ich betonen, dass wir im Team bestrebt sind, über die Zweigeschlechtlichkeit hinaus zu denken, da schon die Zuweisung in Junge/Mädchen bzw. Mann/Frau eine mögliche Diskriminierung und Ausgrenzung von Menschen beinhaltet. Dies versuchen wir auch immer wieder mit unseren Studierenden zu reflektieren.

Durch Praxisbezug erwachsenengerechter werden

Lernsituationen und Unterricht in der Lernfelddidaktik könnten neue Räume öffnen, um auch durch den engen Praxisbezug erwachsenengerechter zu werden. Indem die Lernsituationen Probleme aus der Praxis aufgreifen, stellen sie weniger eine verschulte Aufgabenstellung dar, sondern verweisen direkt auf die eigene pädagogische Praxis. Das kann die Studierenden herausfordern, sich über den Unterrichtsstoff hinaus mit Themen zu befassen und diese wieder einzubringen.

Vielen Dank für das Interview!