16.05.2019

Kinderbücher können die Sicht der Kinder auf die Welt verändern

Gérard Leitz ist ein Verfechter vorurteilsbewusster Kinderliteratur, die die Vielfalt der Gesellschaft darstellt. Er findet es wichtig, den Kindern Geschichten von Heldinnen und Helden zu erzählen, die beispielsweise eine Behinderung haben oder homosexuell sind.

Foto: Koordinationsstelle 'Chance Quereinstieg/Männer in Kitas'

Für das Gespräch über Kinderliteratur hat Gérard Leitz eine Passage aus dem Struwwelpeter vorbereitet. Der fliegende Robert ist eine Geschichte, die ihn als kleinen Jungen sehr fasziniert hat. „Zu meiner Zeit gab es noch nicht die große Auswahl an toller Kinderliteratur“, sagt er. „Ich musste mir meine Helden selbst suchen.“ Seine Helden waren u.v.a. der tanzende Schornsteinfeger aus Mary Poppins, ein anderer der fliegende Robert, der es bei wildem Wetter nicht in der Stube aushält, und vom Sturm davongetragen wird.

„Die Geschichte war für mich alles anderes als negativ“, sagt Leitz und gibt gleich einen Tipp, wie Geschichten wie diese vorgelesen werden könnten, sodass sie den Horizont der Kinder eröffneten und sie zum Träumen bringen. „Es kommt auf die Betonung an“, sagt er. Erhebe man die Stimme bei „Wo der Wind sie hingetragen, Ja! Das weiß kein Mensch zu sagen“ könne das den Blick in eine Welt voller Wunder eröffnen. „Man weiß ja nicht, wo Robert landen wird“, sagt er. Senke man die Stimme jedoch mit einem bedrohlichen Unterton, zeige das ein düsteres Ende auf. Zudem habe man auch immer die Möglichkeit, seiner Phantasie freien Lauf zu lassen und pädagogisch bedenkliche Geschichten mit anderem Ausgang zu erzählen. Schon früh fing Gérard Leitz an, sich selbst Bücher und Geschichten rauszusuchen, in denen er sich ein Stück weit wiederfinden konnte. „Als Kind sucht man sich die Vorbilder selbst.“ Die Leidenschaft für Kinderliteratur begleitet ihn bis heute.

Gérard Leitz ist seit 30 Jahren Erzieher, mittlerweile arbeitet er als pädagogischer Fachberater für Inklusion und als Ansprechpartner der trägerinternen Fachbibliothek und des Online-Fachjournals bei der Socius – Die Bildungspartner gGmbH, ein Träger mit Tätigkeitsfeldern in Bildung, Personalentwicklung sowie sozialpädagogischer Betreuung und Beratung. Gemeinsam setzen sie sich dafür ein, Kinderliteratur, die die Vielfalt der Gesellschaft abbildet, Erzieher/innen näher zu bringen.

Kurz gesagt könnte man Gérard Leitz auch als das wandelnde Kinderbuch bezeichnen. Titel vorurteilsbewusster Kinderliteratur gehen ihm nicht nur locker von den Lippen. Er rezitiert ganze Textpassagen, erweckt die Figuren selbst in kurzen Ausschnitten zum Leben in der Phantasie seiner Zuhörerin.

Schon in den 1980er-Jahren brachte er aus Italien und Großbritannien oder wo immer seine Reisen ihn hinführten Bilderbücher mit in den Kreuzberger Kinderladen, in dem er damals arbeitete. Die Bücher, die er für pädagogisch wertvoll hielt, übersetzte er für die Kinder. Denn in den deutschen Kinderbüchern kamen sie kaum vor – die Heldinnen und Helden mit einer anderen Hautfarbe, die Kinder mit einer Behinderung, die Jungen und Mädchen aus Patchworkfamilien. Als Unterschied zur herkömmlichen Familie gab es zwar den Vater mit seinen drei Söhnen, der seine Frau verloren hatte. „Und auch bei bekannten Disneyfiguren können wir die unterschiedlichsten Familienformen sehen“, sagt Leitz. So wird Dumbo von seiner alleinerziehenden Mutter großgezogen und Nemo und Arielle, die kleine Meerjungfrau, von ihren alleinerziehenden Vätern. Simba, der König der Löwen wird von seinen Freunden erzogen und bei Lilo und Stitch ist es die Schwester. Aber diese Art Alleinerziehender gab es oft nur aufgrund unglücklicher Geschehnisse – und nicht weil es ein Modell ist, wozu sich Mann oder Frau auch frei entscheiden können.

„Wichtig an Büchern ist, dass Kinder Figuren finden, mit denen sie sich identifizieren können.“ Stark können sie sein, mutig oder superwitzig, über Superkräfte verfügen, tolle Abenteuer erleben. Damit könnten sich alle Kinder identifizieren – egal ob Jungen oder Mädchen, egal ob Kinder mit einer Behinderung oder aus einer anderen Kultur. „Kinderbücher sind sehr prägend“, sagt er. „Sie können die Sicht der Kinder auf die Welt verändern.“

Bereits 1945 zog die erste Rebellin in die Kinderzimmer ein – Pippi Langstrumpf, das rothaarige, unangepasste Mädchen, eine Heldin für kleine Jungen und Mädchen. Eine selbstbewusste Persönlichkeit, mit denen sich Kinder immer noch gerne identifizieren. Mittlerweile auch ein zum Vorlesen unbedenkliches Buch, denn der in Deutschland zuständige Verlag Oetinger hatte bereits im Jahr 2009 in den Neuauflagen der Bücher rassistische Begriffe wie zum Beispiel „Negerkönig“ durch „Südseekönig“ ersetzt. Immer noch bringt Leitz aus seinem Urlaub Literatur mit, er kann gar nicht anders. Doch auch auf dem deutschen Büchermarkt hat sich einiges getan. „Oftmals bieten gerade die kleinen Buchhandlungen eine schöne Auswahl an Büchern an, die Klischees nicht mehr bedienen.“ Die Helden und Heldinnen der Geschichten sind multikulturell, kommen aus den unterschiedlichsten Familienkonstellationen, leben mit einer Behinderung, sind die Tochter oder der Sohn homosexueller Eltern oder haben einen transsexuellen Teddybären.

Kinder finden sich in den modernen Kinderbüchern wieder, sind nicht immer nur mitgemeint. „Das ist wichtig“, sagt Leitz. Denn es sind Bücher, die den Kindern schon im frühen Alter die Welt und ihre Menschen in all ihrer Vielfalt zeigen. Für Kinder kann es schon eine erste Diskriminierungserfahrung sein, wenn sie in Büchern nie vorkommen. „Klar kann ein schwarzer Junge einen weißen Helden haben“, sagt Leitz. „Kinder machen sich in dem Alter noch nicht so viel Gedanken über Hautfarben.“ Aber sich selber ganz selbstverständlich in einer Geschichte wiederzufinden, trage zum eigenen Selbstverständnis bei.

Er nennt Beispiele: Die „Erstaunliche Grace“ ist ein Buch über ein schwarzes Mädchen, das gerne in verschiedene Rollen schlüpft, auch in die von Peter Pan. Schwarz und Mädchen und dann Peter Pan werden wollen? Die Bilderbuch-Kinder lachen, bekommen aber gezeigt, dass es möglich ist. Ein anderes Buch handelt vom Trans-Teddy Tilly. Leitz rezitiert: „Teddy Thomas sagt zu seinem Freund Finn: 'Ich muss dir was sagen, aber ich glaube, dann bist du nicht mehr mein Freund.' 'Du wirst immer mein Freund sein“, sagt Finn. Teddy Thomas sagt: „Ich möchte lieber Tilly heißen.“ Auch nach dem Outing spielen sie noch die gleichen Spiele zusammen und picknicken im Baumhaus. Es sind Geschichten wie diese, die ganz selbstverständlich gesellschaftliche Themen behandeln, die in unserer Gesellschaft immer noch nicht selbstverständlich sind. Und schon zaubert Gérard Leitz ein weiteres Beispiel hervor: Das Buch „König und König“, in dem sich ein Kronprinz in Prinz Herrlich verliebt. „Eine wunderbare Geschichte mit tollen Bildern“, sagt er. Doch gebe es immer noch Erzieher/innen, die sich nicht trauten solche Bücher vorzulesen. Einige hätten Angst vor der Reaktion der Eltern. Anderen sei es peinlich, Geschichten über Paare zu erzählen, die nicht der Norm entsprechen. Vielleicht auch, weil sie oft selbst noch Berührungsängste haben? „Wir sollten uns immer trauen, solche Geschichten mit Kindern zu lesen und zu diskutieren“, sagt Gérard Leitz. „Das sind wir ihnen und ihren Familien schuldig.“