08.10.2018

Geschlechtergerechtigkeit muss inhaltlich gefüllt werden

Die Bildungspläne für den Elementarbereich enthalten viele normative Anforderungen zu Geschlechtergerechtigkeit, die sich zum Teil widersprechen bzw. die Herausforderungen deutlich vernachlässigen. Interview mit Melanie Kubandt.

Foto: privat.

Ende dieses Jahres veröffentlichen wir die erste Ausgabe einer Lose-Blatt-Sammlung mit Beiträgen zur geschlechtersensiblen Erzieher/innenausbildung. Wie kann sie gelingen? Vor welchen Herausforderungen stehen für die Ausbildung Verantwortliche in Fachschulen für Erzieher/innen, in kindheitspädagogischen Studiengängen und Kitas? Welche Bedeutung spielen Geschlechterthemen in der Ausbildung und wie lassen sie sich vermitteln? Auch Melanie Kubandt konnten wir für einen Beitrag gewinnen.

Im folgenden Interview berichtet sie von den Herausforderungen, normative Vorgaben zur Geschlechtergerechtigkeit, in der Praxis von Kindertageseinrichtungen umzusetzen.

Zur Person

Prof. Dr. Melanie Kubandt ist seit März 2018 Juniorprofessorin für „Gender und Bildung“ an der Universität Vechta. Davor war sie u.a. Vertretungsprofessorin für Sozialpädagogik und Sozialdidaktik an der Leuphana Universität Lüneburg und für Pädagogische Kindheits- und Familienforschung an der Universität Osnabrück. In den Jahren davor war sie langjährig sowohl an der Universität Osnabrück als auch in der nifbe Forschungsstelle Elementarpädagogik als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig. Sie hat über doing gender in Kindertageseinrichtungen promoviert, wobei Geschlechterkonstruktionen von Kindern, Eltern und Fachkräften untersucht wurden. Melanie Kubandt ist ausgebildete Diplom-Pädagogin mit dem Schwerpunkt Elementarpädagogik und Sprachheilpädagogin (M.A.). Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der frühen Kindheit, insbesondere im Bereich der qualitativ-rekonstruktiven Forschung zu Geschlecht.

Frau Kubandt, Ihr Forschungsfeld ist die Kindertageseinrichtung. Woran zeigt sich am Beispiel von Geschlecht, dass Heterogenität ein Gewinn für Kitas sein kann? Woran zeigt sich aber auch, dass damit Herausforderungen verbunden sind?

Für das Feld der Kindertageseinrichtungen wird Geschlecht in der Regel im Zusammenhang mit der Forderung nach der Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit zum Thema. Das betrifft auch den pädagogischen Alltag in Tageseinrichtungen für Kinder und im Speziellen die Arbeit und den Umgang frühpädagogischer Fachkräfte mit Kindern. Hintergrund dieser Forderungen ist die Annahme, dass Geschlecht im pädagogischen Alltag eine wesentliche Bedeutungsdimension ist, die es fachlich zu berücksichtigen gilt. Wird dieser Anspruch vernachlässigt, kann das dazu führen, dass unbewusst Benachteiligungen im pädagogischen Alltag etabliert werden, auch wenn das gar nicht beabsichtigt war. Daher kann die Auseinandersetzung mit eigenen Stereotypen und der Anspruch an die eigene Arbeit nach Gerechtigkeitsprinzipien arbeiten zu wollen, ein erster Schritt in die richtige Richtung sein.

Indem sich im Kontext von Gender- und Diversitydebatten im kindheitspädagogischen Bereich in der Regel allerdings entweder eine Fokussierung auf Anerkennung von Differenz(en) oder eine machtkritische Perspektive auf Ungleichheit findet, ist es wichtig aufzuzeigen, wie unterschiedlich Geschlechtergerechtigkeit je nach Positionierung pädagogisch gedacht wird. So gibt es im kindheitspädagogischen Feld zum einen Ansätze, die unter Geschlechtergerechtigkeit eine Abkehr von Differenzen verstehen. Ein prägnantes Beispiel für eine solche pädagogische Praxis ist z.B. die schwedische Kindertageseinrichtung Egalia, die laut der Leiterin Lotta Rajalin eindeutig geschlechtsneutral ausgerichtet ist, da man Mädchen und Jungen gleich behandeln solle. Diesem geschlechtsneutralen Ansatz stehen geschlechtsbewusste Positionen gegenüber, die einen Fokus auf den Umgang mit geschlechtlichen Differenzen legen. Bleibt unthematisiert, wie Geschlechtergerechtigkeit inhaltlich gefüllt wird, sind pädagogische Fachkräfte in Kindertageseinrichtungen manchmal verunsichert und fragen sich: „Geschlechtergerechtigkeit, heißt das jetzt Unterschiede vermeiden oder anerkennen? Und wenn situativ beides, wann je was?“

Welche Schritte müssten Kitas gehen um sich hinsichtlich Heterogenität weiter zu entwickeln? Was müsste dazu ggfls. gesellschaftspolitisch angeschoben werden?

Gerade im Umgang mit gesellschaftlicher Vielfalt zeigt sich, dass zwar in planbaren Angeboten Stereotypisierungen vermieden und geschlechtergerechte Strukturen etabliert werden können, in alltäglichen Interaktionen im pädagogischen Alltag allerdings häufig Prozesse der Stigmatisierung von benachteiligenden Unterschiedsperspektiven durch pädagogisches Personal gegenüber Kindern vollzogen werden. Demnach bilden sich die Herausforderungen eines geschlechtergerechten Handelns primär im Rahmen von Fachkraft-Kind-Interaktionen ab und nicht so sehr auf Ebene von institutionellen Vorgaben, planbaren Angeboten und/oder bestehenden Infrastrukturen. Da können pädagogische Fachkräfte ansetzen und ihre eigenen Geschlechterbilder im Kopf hinterfragen und vor allem auch darauf achten, was sie an Kinder herantragen.

Aus meiner Sicht müsste sich aber auch viel auf Ebene der normativen Anforderungen wie beispielsweise in den Bildungsplänen ändern. Denn im Hinblick auf bildungspolitische Formulierungen in den Bildungsplänen ist nicht ausreichend definiert, was im Kontext von Geschlecht konkret unter Vermeidung von Stereotypen zu verstehen und wie dem im pädagogischen Alltag zu begegnen ist. Gerade wenn einerseits die Anerkennung von Unterschieden zum Ausgangspunkt der Forderungen wird, zugleich allerdings Stereotype vermieden werden sollen, stellt sich die Frage, (ab) wann Geschlechterdifferenzen bzw. Differenzierungen problematisch sind bzw. als Stereotypen angesehen werden. Denn ich habe in meinen Studien festgestellt, dass in den Bildungsplänen für den Elementarbereich viele normative Anforderungen zu Geschlechtergerechtigkeit enthalten sind, die sich zum Teil widersprechen bzw. die Herausforderungen deutlich vernachlässigen. Im worst case führt das dazu, dass pädagogische Fachkräfte an Ansprüchen scheitern, die gar nicht so einfach realisierbar sind, die Fachkräfte aber trotzdem daran gemessen bzw. bewertet werden.

Alles in allem sind also nicht nur Bildungseinrichtungen wie Kindertageseinrichtungen Orte, in denen bestehende Geschlechterverhältnisse mitgestaltet werden, sondern auch Debatten und Veröffentlichungen transportieren spezifische Vorstellungen von Geschlecht, die zu einer Stereotypenbildung beitragen können. Beispielsweise spiegelt sich in den Bildungsplänen auch die gesellschaftlich nach wie vor wirksame Folie der Zweigeschlechtlichkeit wider, indem in der Regel nur zwischen Männern und Frauen, Jungen und Mädchen unterschieden wird. Zukünftig braucht es folglich auch auf Ebene normativer Vorgaben alternative Modelle bzw. erweiterte Perspektiveinnahmen jenseits von Zweigeschlechtlichkeit.

Frau Kubandt, wie stellt sich in Ihrer Institution Heterogenität dar?

An der Universität Vechta, an der ich seit Anfang des Jahres als Juniorprofessorin für Gender und Bildung tätig bin, ist die Genderforschung ein eigener, disziplinübergreifender Schwerpunkt. Dies zeigt sich in dem dort etablierten Netzwerk „Gender Studies“, einem Promotionskolleg Gender Studies und einem Gender- und Diversity-Zertifikat, das von Studierenden aller Fachrichtungen erworben werden kann und in dem ich primär lehre. Das Zertifikat ist eine universitäre Zusatzqualifikation, die bis zu 30 Credit Points umfasst und in den Profilierungsbereich eingebunden ist. Auch gibt es ein sogenanntes universitätsübergreifendes Diversity Audit. Durch dieses Diversity Audit, das u.a. durch viele Arbeitsgruppen geprägt ist, an denen sich alle Statusgruppen beteiligen können, möchte die Universität Vechta die Chancengerechtigkeit erhöhen. Das heißt, der Universität ist es ein Anliegen, der Vielfalt ihrer Studierenden und Beschäftigten gerecht zu werden. So ist es ihr wichtig, mögliche Diskriminierungen an der Universität sichtbar zu machen und diese abzubauen, sowie die Bildungsgerechtigkeit zu erhöhen und eine wertschätzende Hochschulkultur zu etablieren.

DANKE für die Beantwortung der Fragen!