21.06.2016

Lebenslanges Lernen

„Für mich war eine Veranstaltung noch nie so anstrengend wie der erste Durchgang dieser Art, ich war richtig durchgeschwitzt. Da mache ich mich mit den Studierenden gemeinsam auf den Weg zu einer Erkenntnis. Und das ist doch eigentlich auch das, was man mit den Kindern in Kitas später macht, sich gemeinsam auf Bildungsprozesse zu begeben.“ Interview mit Prof. Dr. Stefan Bestmann, der selbst als Quereinsteiger in den Erzieherberuf gefunden hat und der an der Katholischen Hochschule Berlin bei der Erprobung eines berufsbegleitenden Studiengangs für nicht-traditionell Studierende mitgewirkt hat.

„Die Studierenden begegnen sich als berufserfahrene Menschen, die etwas mitbringen und sich hier in eigener Verantwortlichkeit weiter entwickeln“ Prof. Dr. Stefan Bestmann | Foto: privat.

Herr Bestmann, Sie haben mit 24 Jahren ihr Studium abgebrochen und haben als Quereinsteiger in den Erzieherberuf gewechselt. Wie kam es dazu?

Nach dem Abitur habe ich Geologie und Paläontologie studiert, ich habe ein Vordiplom in Physik, Chemie, Mineralogie und Geologie gemacht und dann das Studium während meiner Diplomarbeit abgebrochen. Damals habe ich festgestellt, dass ich für einen Beruf studiere, auf den ich gar keine Lust habe. Das war eine große Krise für mich, weil ich ein guter Student war, ein sehr guter Student. Trotzdem habe ich einen Cut gemacht und war erstmal orientierungslos, wie es weiter gehen sollte.

Verschiedene Überlegungen haben dann dazu geführt, dass ich in den Erzieherberuf wechseln wollte. Ich hatte schon immer Lust, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Auch Kinder- und Jugendpsychotherapeut hat mich interessiert. Und wie sagt man in Berlin so schön von der Pike auf lernen also dachte ich: "Mach doch eine Erzieherausbildung".

Um die Ausbildung zu finanzieren, die Vollzeit organisiert war, nicht bezahlt wurde und insgesamt vier Jahre dauerte, habe ich nebenher in einem Pflegeheim und zuvor in einer Großtagespflege gearbeitet. Teilweise war ich so müde, dass ich im Unterricht eingeschlafen bin.

Nach der Ausbildung habe ich unter anderem eine Kinder- und Jugendfreizeitstätte in Berlin, die ‚Alte Feuerwache‘, aufgebaut und parallel angefangen Sozialarbeit und Sozialpädagogik an der TU Berlin zu studieren. Ich wollte beruflich noch weiterkommen. Danach habe ich mich dann selbstständig gemacht und promoviert. Heute habe ich mehrere Standbeine, unter anderem eine Gastprofessur an der Katholischen Hochschule.

Vor dem Hintergrund Ihrer eigenen Bildungserfahrungen: Was ist Ihnen in der Lehre besonders wichtig?

Mein didaktisches Vorgehen ist immer ganz stark auf ein Miteinander ausgerichtet. Die Studierenden, mit denen ich im berufsbegleitenden Studiengang arbeite, sind Profis. Das sind keine Leute, die ich schulen muss. Ich lerne in diesen Prozessen selbst unheimlich viel. Deshalb war es sicherlich gut, dass ich als Einstieg an der Hochschule im berufsbegleitenden Studiengang tätig war.

Als Lehrender eigene Erfahrungen einbringen

Ich konnte immer ganz authentisch und ganz ehrlich sagen: „Das, was Sie sich hier vornehmen, habe ich schon hinter mir.“ Also, ich ziehe wirklich den Hut vor Leuten, die sich bewusst in so eine anstrengende Situation bringen, die berufsbegleitend noch einmal so eine Ausbildung wagen. Aus meiner eigenen Erfahrung weiß ich sehr genau, was das bedeutet.

Selbst rausfinden, was man lernen will

Meine Erfahrungen im berufsbegleitenden Studiengang haben dazu geführt, dass ich alle meine Seminare so aufbaue, dass die Studierenden selber rausfinden müssen, was sie eigentlich lernen wollen, was ihre eigenen Qualifikationsziele sind. Die sogenannten Qualifikationsziele, die mir als Lehrendem in einem Modulhandbuch in gewisser Weise vorgegeben werden, können doch höchstens Qualifikationsaufträge sein, die sich an mich als Lehrender richten.

Ziele im eigentlichen Sinne kann ich mir nur selbst stecken, nicht jemand anderes kann mir ein Ziel geben. Jemand anderes kann mir nur einen Auftrag geben. Deshalb sage ich immer, mein Job sind die Qualifikationsaufträge und die Studierenden sollen klären, was sind ihre Ziele, wozu sind sie hier.

Diese Vorgehensweise ist für die meisten ungewohnt. Einige kommen auch genervt zu mir und sagen, „Sie sind doch der Professor, sie müssen doch wissen, was ich hier lernen soll“.

Von der Entmündigung zur Selbstbildung

Ich kann doch nicht sagen, die sollen beispielsweise im Studienschwerpunkt ‚Bildung und Erziehung‘ feststellen, das Kind sei in einem Selbstbildungsprozess, und ich behandle sie nicht wie ein Mensch in einem Selbstbildungsprozess, sondern wie Erwachsene in einem Entmündigungskonzept, das ich ihnen vorgebe. Das müssen die Student/innen erfahren. Ich muss mit meiner Vorgehensweise vermitteln, dass die Studierenden die Produzent/innen ihrer eigenen Bildung sind, nicht ich. Das kann ich nur mit ihnen machen. Ich muss die Strukturen so verändern, dass sie überhaupt in Selbstbildungsprozesse kommen.

Wie sehen solche Selbstbildungsprozesse aus?

Im Rahmen der Vorbereitungen unseres Projekts für sogenannte nicht-traditionell Studierende an der Katholischen Hochschule ergab sich die Frage: Wie begrüßen wir die Leute hier an der Hochschule? Ich finde, ein guter Einstieg macht total viel aus. Nach der offiziellen Begrüßung der damaligen Rektorin habe ich nachmittags dann mit den 38 Studierenden zum Thema Kompetenzen und was man in der Sozialen Arbeit braucht gearbeitet.

Ängsten begegnen – Vorhandene Kompetenzen in den Mittelpunkt stellen

Mein Ziel war es, dass die Studierenden selbst sehen, was da für Kompetenzen in ihrer Kohorte sind. Da waren Leute, die 45 Jahre alt sind, Einrichtungen leiten und jetzt das erste Mal an der Hochschule sind und vor Angst total zittern. Der Widerspruch ist permanent da: Einerseits sind sie in ihrem Praxisfeld sehr anerkannt, haben eine große Expertise, hier kommen sie rein und sind Erstsemester.

Und wie bekommt man das zusammen?

Na ja, durchs Tun. Nicht nur durch eine Meta-Ebene und Theorie sondern dadurch, dass die Studierenden sich anschauen, wer ist da noch, wo kommen die her, was haben die für Geschichten. Also dass die Studierenden selbst sichtbarer werden und dass sie nicht nur mich anschauen, sondern dass sie sehen, wer sitzt da, wer kann mich vielleicht auch unterstützen. Eine Idee war, für jeden ein Kompetenzprofil zu erstellen.

Berufsbiographischer Hintergrund, Stärken, Vorlieben – wer bietet was

Ich würde mir wünschen, dass alle Studierenden dies haben, aber auch alle Lehrenden. Foto, Name, was ist dein berufsbiographischer Hintergrund, was hast du für Stärken, was machst du gerne, was willst du anderen anbieten. Dadurch wird sichtbar: Wer was kann, wer bietet was an, wer sucht was? Das hört sich vielleicht banal an, aber diese Vorgehensweise hat eine große Wirkung: Die Studierenden begegnen sich als berufserfahrene Menschen, die etwas mitbringen und sich hier in eigener Verantwortlichkeit weiter entwickeln.

Was ist für Sie der Unterschied zwischen dem berufsbegleitenden Studiengang und dem regulären? Wenden Sie unterschiedliche Methoden an?

Ich habe im berufsbegleitenden Studiengang viel gelernt, was ich jetzt auch im Regelstudiengang einbaue. Bei der Methodik ist es ganz stark der Prozess, den Leuten respektvoll klarzumachen, dass sie sich hier in einem komplett freiwilligen Kontext bewegen und dass sie dafür die Verantwortung übernehmen.

Eigene Fragen stellen

Als Lehrender muss ich im Seminar eine attraktive, einladende Kultur des Arbeitens schaffen, sodass die Studierenden Lust haben, in einen Arbeitsmodus zu kommen, und nicht nur in so einen Sitz- und Konsummodus. Dann fängt ja Bildung erst an: Also wenn die nicht nur konsumieren und versuchen herauszufinden, welche Fragen ich stelle und welche Antworten sie darauf geben sollen, sondern wenn sie anfangen, eigene Fragen zu stellen.

Langweiler-Thema in der Badewanne

Ein Beispiel, ist die Umsetzung meiner Theorie-Vorlesung für den Studiengang Soziale Arbeit. Die Vorlesung ist eigentlich das Langweiler-Thema für Erstsemester: Geschichte und Theorie Sozialer Arbeit. Wir haben die Vorlesung auf Video aufgenommen und ich habe sie in thematische Bausteine unterteilt. Die Studierenden sollen sich grob informieren und einlesen, in die Vorlesung reinhören. Und dann wird darüber abgestimmt, welche Themen sie intensiver behandeln möchten. Auf diese Themen müssen sie sich dann jeweils für die Präsenzblöcke vorbereiten, mit allen Online-Materialien und dem Vorlesungsvideo. Das können sie sich anschauen, wann und wo sie wollen.

Von der Konkurrenz zur Lerngruppe

In der Präsenzzeit besprechen wir dann die Fragen der Studierenden  und zwar in Kleingruppen, in denen die Studierenden selbst erstmal über ihre Fragen diskutieren können. Und die Fragen, die dann am Ende noch übrig bleiben oder neu hinzugekommen sind, die stellen sie mir. Die Studierenden sind dann total überrascht, dass da Leute sind, die ihnen Sachen erklären können, obwohl das nicht Professorinnen oder Professoren sind. Das hat auch den Nebeneffekt, dass die Studierenden sehen, es macht zum Beispiel Sinn, eine Lerngruppe zu gründen oder die Kommilitoninnen und Kommilitonen als KollegInnen und nicht als Konkurrent/innen zu sehen.

Als Lehrender gemeinsam mit den Studierenden lernen

Ich persönlich bin durch so eine Veranstaltung natürlich viel mehr gefordert, denn die Fragen, die am Ende noch übrig bleiben, sind echte Verständnisfragen. Für mich war eine Veranstaltung noch nie so anstrengend wie der erste Durchgang dieser Art, ich war richtig durchgeschwitzt. Da mache ich mich mit den Studierenden gemeinsam auf den Weg zu einer Erkenntnis. Und das ist doch eigentlich auch das, was man mit den Kindern in Kitas später macht, sich gemeinsam auf Bildungsprozesse zu begeben.

Theorie-Praxis-Transfer

Nachdem wir alle Verständnisfragen geklärt haben, wird diskutiert – wie bewerten wir denn das, was wir verstanden haben? Darauf folgt die Frage, was heißt das jetzt für das praktische Handeln? Also die Anwendungsebene.

Vom Freak-Kurs zur allgemeinen Lernkultur

Hilfreich für so einen Prozess ist eine in der jeweiligen Institution gemeinsam abgestimmte Lernkultur.
Das sollte im Idealfall für die gesamte Hochschule konzipiert sein und darf nicht so individualisiert werden, dass irgendwelche Lehrenden ihren isolierten Freak-Kurs machen.

Wie können sich die Lehrenden dabei unterstützen, eine solche Lernkultur an ihrer Institution umzusetzen?

Ich finde schon mal eine ernsthafte Auseinandersetzung darüber wichtig, welches Selbstverständnis wir als Lehrende eigentlich haben. Es kann viel transparenter gemacht werden, wie Seminare eigentlich didaktisch gestaltet werden. Da werden wir ins Hochschuldidaktische Zentrum verwiesen, aber ich will hier in die Räume meiner Kolleginnen und Kollegen verwiesen werden! Da ist mittlerweile einiges in eine gute Bewegung gekommen. Wenn wir als Lehrende nicht auf Augenhöhe miteinander umgehen, dann wird eine angemessene Lernkultur auch konzeptionell nicht funktionieren. Dies benötigt zugleich strukturelle Qualitäten in der Unterstützung.

Für Unruhe sorgen – Peerlearning auch für die Lehrenden

Und das ist für mich, bezogen auf den Arbeitsgegenstand Soziale Arbeit, zwingend notwendig. Ich kann nicht Leute ausbilden, dass sie mit Adressatinnen und Adressaten auf Augenhöhe und partizipativ und was wir alles für normativ bedeutungsvolle Worte verwenden, umgehen, wenn wir als Lehrende nicht solche Erfahrungsräume für uns haben und gleichzeitig aber auch die Studierenden das in der Ausbildung nicht selbst erfahren können. Deshalb glaube ich, wir Lehrenden müssen uns selbst auch stärker als Peers nutzen und von unserer Diversität profitieren. Dass wir nicht in Konkurrenz gehen, nicht alles machen und können müssen. Das bringt allerdings viel Unruhe mit sich …

Vielen Dank für das Interview!